Mein Blog
Hier werde ich zukünftig über meine Erfahrungen, meine Erlebnisse und vieles mehr berichten...
Meine Geschichte
Wird hier starten... ab September kannst du auf meinem Blog verfolgen, was sich so tut.
September 2020
Ich bin so dankbar unterwegs sein zu dürfen!
Es ist total krass und schwer zusammenzufassen was ich alles erzählen möchte.
Ich bin jetzt seit 5 Wochen auf meinem Vorbereitungskurs in der Nähe von Hannover – für mich ist das hier hoher Norden. Schnell haben mich aber die Einheimischen darüber aufgeklärt, dass es noch weit ist bis zum Meer. Gleich bei meinem nächsten Satz lachen sie dann meist über meine lustige Sprache. Wie es scheint kann man auch in Deutschland schon einen ersten Kulturschock bekommen.
Ich soll hier in 4 Monaten möglichst gut vorbereitet werden für meine Ausreise in den Tschad. Ich weiß selbst nicht ob mein Lachen über diese Aussage fröhlich oder manchmal sogar ein wenig hysterisch ist – vielleicht beides. Kann man sich auf so etwas vorbereiten? Je mehr ich hier lerne, desto mehr Respekt bekomme ich auch vor dieser riesigen Aufgabe. Aber gleichzeitig wächst meine Freude auch. Freude darüber und darauf, dass ich das Privileg habe in den Tschad zu gehen, mit dem was ich kann und mit dem was ich dort auch alles lernen werde.
Aber was ist das eigentlich was ich hier so mache, um mich vorzubereiten?
Ich darf wieder mal die Schulbank drücken. Wir haben jeden Tag Unterricht, in dem wir total verschiedene Themen behandeln. Eine Woche ging es zum Beispiel um unsere Persönlichkeit. Um andere zu verstehen ist es auch wichtig sich selbst zu kennen. Was nehme ich an Schwächen mit? Wo sind meine wunden Punkte und wie gehe ich damit um? Was triggert mich und macht mich zornig? Was habe ich auch an Ressourcen, um in schweren Zeiten darauf zurück zu greifen? Das ist ganz schön wichtig wenn man in einem internationalen Team zurechtkommen will, in dem die Menschen nicht nur anders sind als ich, sondern dazu auch noch aus ganz anderen Kulturen kommen.
Immer wieder hören wir im Unterricht davon, dass der Einstieg in eine fremde Kultur nicht so einfach ist. Das Team hier versucht uns so viel Hilfestellung wie möglich an die Hand zu geben. Es ist ein riesiges Geschenk zu wissen, dass so viele Menschen hinter mir stehen!
Mit am meisten mag ich es, wenn auf unserem Stundenplan „Arbeitseinsatz“ steht. Das bedeutet, dass wir an diesem Tag auf der Baustelle für das neue Bürogebäude mithelfen müssen und dürfen. Die gefällten Bäume aufräumen, den gepflasterten Weg erst aufreißen um ihn dann an einer anderen Stelle wieder zu verlegen. Mein absolutes Highlight war aber als einer der Mitarbeiter mir das Baggerfahren beigebracht hat:
„Hei, ich würde so gerne auch mal Bagger fahren“
„Klar“, sagte er, stieg aus und hat mich einsteigen lassen. „Mach halt. Pass nur auf, dass du nicht das Haus einreist“ Ein Meter zu meiner Rechten ist die Hauswand „Ach ja, und dann sind hier Rohre – darfst halt nicht zu tief baggern!“
Ich erwartete eine Erklärung. Die kam aber nicht.
Ich habe kein Haus eingerissen und auch die Rohre nicht getroffen und trotzdem gelernt, wie man baggert. Ich war stolz wie Bolle, dass mein Lehrer schon nach ganz kurzer Zeit einfach ging um was anderes zu arbeiten. „Das machst du schon“ hat er noch gegrummelt.
Ob ich das wohl in meinem Leben nochmal brauchen kann? Vielleicht nicht. Aber vielleicht lerne ich Lernende zu bleiben, Sachen auszuprobieren, nicht von vornherein zu denken, dass sei nur was für Andere.
Lernen. Französisch lernen ist als Beispiel dazu so eine Sache. Das brauche ich unbedingt, bin aber in der Schule damals geschickt drum rum gekommen. Jetzt stehe ich jeden Morgen eine Stunde früher auf um Vokabeln und Grammatikregeln in meinen Kopf zu bekommen. Und die Ausnahmen zu den Regeln. Und die Ausnahmeregel zu den Ausnahmen. Und manchmal dazu dann noch die Ausnahme. Da wünsche ich mir, französisch wäre auch so intuitiv wie Baggerfahren. Trotzdem macht es mir, fast zu meinem eigenen Erstaunen, richtig Spaß. Und dafür bin ich mega dankbar.
Wie es bei mir weitergeht?
Der Kurs hier dauert bis Mitte Dezember. Im Januar werde ich dann noch eine Zeit lang in die französischsprachige Schweiz gehen, um viel Freude beim Lernen zu haben. Im Februar werde ich noch einen tropenmedizinischer Kurs besuchen und dann – dann will ich, wenn alles klappt, in den Tschad reisen. Das ist noch ein langer Weg bis dahin. Und dann wird es eigentlich erst richtig losgehen.
Danke, dass ihr mit mir unterwegs seid.
November 2020
Nun sind schon fast drei Monate meiner Vorbereitungszeit hier im „Heidehaus“ – wie wir es liebevoll nennen – vergangen. Ein Monat liegt noch vor mir. Das letzte mal habe ich berichtet was für ein Privileg es ist hier zu sein und das kann ich auch jetzt nur noch weiter unterstreichen! In verschiedenen Farben, ganz bunt und ganz ganz dick!
Unsere Wochen sind in verschiedene Unterrichtseinheiten eingeteilt. Eine Woche haben wir zum Beispiel das Thema Projektmanagement behandelt. Ich hatte davor noch keine Ahnung davon, wie man an ein Projekt überhaut herangehen kann. Ich habe vielleicht eine Idee, aber was mache ich damit überhaupt? Ist die Idee gut? Ist sie umsetzbar? Was brauche ich dafür, was kostet das alles, welche Risiken muss ich bedenken und was sind die ersten Schritte in Richtung einer möglichen Verwirklichung? Ein Projektmanager, der jahrelang bei Siemens gearbeitet hat, unterrichtete uns in ganz praktischer Weise hierzu. Ich habe nicht nur neue Fähigkeiten gelernt, sondern dabei auch richtig viel Spaß gehabt.
Ein weiteres wichtiges Fach für mich ist natürlich Französisch. Schon das letzte Mal habe ich euch davon geschrieben. Es war für mich ein kleines Wunder, dass ich Lernmaterial von einem ehemaligen Kollegen bekommen habe, das mich genügend motiviert, mich jeden Morgen hinzusetzen, um französische Vokabeln und Grammatikregeln in meinen müden Dickschädel zu bekommen. Hier folgt die Fortsetzung dieses Wunders: Eine meiner neuen Kolleginnen hilft mir jetzt Geschichten auf Französisch zu erzählen. Und eine berentete Französischlehrerin aus der Schweiz, liest ebenfalls meine Berichte. Sie hat auf meinen letzten Bericht damit angefangen immer mal wieder mit mir zu telefonieren und bei meiner Aussprache zu helfen – morgens um 7.30 Uhr! Ich bin einfach nur so dankbar für diese Hilfe und dass Menschen hinter mir stehen!
Ja – wir sind nicht alleine, sondern im Team unterwegs! Das ist unglaublich gut! Und manchmal auch unglaublich herausfordernd. Um darauf ein bisschen besser vorbereitet zu sein, haben wir hier auch ein Team. Wir Schüler des Vorbereitungskurses haben das Vorrecht alle in einer Wohngemeinschaft zu leben und damit auch trotz Corona viel Zeit miteinander verbringen zu können. Mit allen Vor- und Nachteilen. So gehört gemeinsames Lernen, Putzen, Kochen, kleine und mittlere Konflikte aber auch viel Spaß zu unserer Tagesordnung. Einmal hatten wir einen Feedbackabend, an dem wir uns gegenseitig unsere Wachstumsbereiche und unsere Gaben erzählen mussten. Was haben wir gebangt, ob wir uns danach wohl noch vertragen? Dann war es aber richtig gut und super ermutigend für uns alle.
Einer meiner Lieblingsbegebenheiten war unser Weihnachtsmarkt am 7. November.
„Carmen mir ist ein bisschen langweilig. Ich will irgendwas machen“, so kam Bea zu mir in mein Zimmer.
Was unternehmen? Da bin ich eigentlich immer dabei! Und ich habe auch trotz Einschränkungen immer einen Haufen mehr oder weniger brauchbarer Vorschläge: „In die Oker, den Fluss hinterm Haus springen?“
„Es hat 7°C, Carmen!“
„Eine Schatzkarte malen und einen Schatz aus Schokotalern verstecken?“
„Hm….“
„Sich als Räuber verkleiden und einen Hinterhalt im Flur legen? Ein Piratenschiff bauen? Eine Burg aus Tischen und Stühlen bauen und mit dem Holzpferd drumrum reiten? Einen Weihnachtsmarkt im Garten veranstalten? Ein…“
„Carmen – das mit dem Weihnachtsmarkt ist eigentlich eine richtig gute Idee!“
Und so kam es! Wir haben alle Lichterketten hervorgeholt. Und viele viele Kerzen. Jeder hat einen Stand vorbereitet. Es gab Chili con carne, im Feuer gebratene Pfannkuchen, gebrannte Mandeln, Schokofruchtspieße, Bratäpfel, Glühwein und vieles mehr. Um all das konnte man mit Schokoladentalern handeln.
Ich weiß – ich habe es schon geschrieben, aber ich kann es nur immer wieder schreiben: Ich bin so dankbar für das Vorrecht hier sein zu dürfen! Ich bin so dankbar, dass ich hier im Vorbereitungskurs ein so tolles Team habe und ich freue mich sehr auf mein Team im Tschad! Und ich bin unglaublich dankbar auch Euch in meinem Team zu haben! Ohne Eure Hilfe wäre das einfach nicht möglich! Ihr seid Teil meines Teams und das ist ein riesen Geschenk!
Dezember 2020
Ich wünsche euch eine schöne Adventszeit!
Flexibilität scheint das Wort des Monats zu sein. Wir machen Pläne und dann ändern sich die Regeln. Wir seufzen und sind frustriert darüber, machen neue Pläne – und dann ändern sich die Regeln wieder. Ich glaube, dieses Gefühl kennen wir gerade alle. Ich natürlich auch. Und dann sitzen wir Teilnehmer vom Vorbereitungskurs hier und versuchen – in aller Flexibilität – unsere nächsten Wochen und Monate zu planen – Sprachaufenthalte, Kurse, die noch gebraucht werden, Freunde, die wir nochmal sehen wollen, Ausreise… - dabei ändert sich gerade alles innerhalb von Tagen.
Da ist es natürlich eine ganz schöne Herausforderung sich keine Sorgen zu machen. Ich bin froh und dankbar dafür, die Treue Gottes und eure Hilfe in all dem zu erleben!
Hier noch ein kleines Abenteuer, das ich euch erzählen will:
Ich hatte die Möglichkeit, aus einem bereits für den Kongo gepackten Hilfscontainer, der jetzt aber aufgrund der ganzen Corona-Situation nicht transportiert werden kann, OP-Besteck zu bekommen. Das hat mich sehr gefreut, weil ich um den Mangel in meiner neuen Wahlheimat weiß. Also fuhren wir – ich und meine drei starken Helfer – an einem nebligen Samstag dorthin, um mal zu schauen, ob ich etwas von dem gebrauchen kann, was in dem Container verborgen war.
Wir öffneten den bis unter die Decke vollgepackten Metallkasten. Erstmal begannen wir damit, einige Schränkchen heraus zu räumen. Doch dann zeigte sich vor uns eine Wand aus gestapelten Krankenhausbetten, die wir unmöglich an einem Tag, zu dreieinhalbst aus dem Container bekommen konnten. Was tun?
„Das OP-Besteck ist so in der Mitte links in dem Container. Ich weiß noch wie wir das eingeräumt haben“, sagte unser Ortskundiger.
„Vielleicht müssen wir die Betten ja gar nicht rausholen… Vielleicht können wir ja drüber steigen“, schlug ein anderer vor.
„Vielleicht können wir sie auch ein bisschen vorschieben…“
Und so versuchten wir unseren Schatz zu erreichen. Mit Taschenlampen zwischen den Zähnen kletterten wir in dem engen Container herum. Wir stemmten uns gegen die Betten und krochen über Bettgestelle. Zwischendrin dachte ich, wir schaffen das nie. Immer wieder konnte ich nur hoffen, dass nicht einem von uns etwas schweres auf den Kopf fällt. Als wir den Schrank mit dem OP-Besteck erreichten, begann einer meiner Helfer mir immer wieder neue Kisten zu zeigen.
„Ist das gut? Kannst du das brauchen?“
„Hm… ich wünschte wir würden Scheren finden. Die sind so wichtig und im Krankenhaus in N’Djamena gab es nur stumpfe“
Endlich in der letzten Kiste fanden wir sie dann. Das war eine Freude! Und froh war ich auch, als wir alle wieder heil aus dem Container raus waren und ebenfalls wie durch ein Wunder auch alles was wir ausgeladen hatten wieder hinein gepasst hat… Zumindest fast alles. Meine Scheren habe ich glücklich verpackt und freue mich jetzt schon darauf sie an meinem neuen Arbeitsplatz zu verwenden. Das war ein richtig schönes Vorweihnachtsgeschenk!
Und das wünsche ich Euch auch allen! Ich wünsche euch Vorfreude und Zeit zum Genießen! Ich wünsche euch mega gesegnete Weihnachtsfeiertage!
Januar 2021
Bonjour chers amis,
Hattet ihr auch einen so verschneiten Start ins neue Jahr? Ich bin hier gefühlt am Ende der Welt gelandet, in einem kleinen Dorf, in der französischsprachigen Schweiz – Le Paquier. Hier hat es ungefähr 25 Häuser, kein Bäcker, keine Läden, keine Ampeln, nicht einmal eine richtige Kreuzung gibt es… Dafür aber Schnee. Sehr viel Schnee.
Nachdem mein Vorbereitungskurs kurz vor Weihnachten endete, hatte ich eine wunderschöne Zeit mit meiner Familie und mit meinen Freunden. Es gab so manches lange Gespräch bis tief in die Nacht. Viel haben wir gelacht und gespielt. Sehr genossen habe ich auch die Zeit mit meinen geliebten Neffen und Nichten. Ein paar neue Gesichter hatte ich doch tatsächlich bisher nur von Bildern gekannt. Aber kaum war ich so richtig dort angekommen, da bin ich am 05.01. auch schon wieder los – in den Zug gestiegen und in die Schweiz gefahren, in eben das bereits erwähnte kleine Dorf am Ende der Welt. Und jetzt bin ich hier um Französisch zu lernen.
Ich wohne bei einem älteren Ehepaar – Jean-Philipp und Claire. Sie sind wunderbare Menschen mit viel Gastfreundschaft, Humor und Geduld. Jeden Morgen habe ich jetzt Unterricht bei ihnen. Ich lerne französische Grammatik, neue Vokabeln und Redeweisen. Relativsätze, Vergangenheit, Zukunft, bestimmter und unbestimmter Artikel.
„War ,die Freude‘ im Französischen nun nochmal weiblich oder männlich? Und ,vergessen‘ – bildet man das mit ,à‘ oder mit ,de‘“?
Wir lachen viel, wenn ich immer wieder dieselben Fehler mache oder Worte verwechsle. Auch im Alltag reden wir eigentlich nur französisch, obwohl Claire sehr gut deutsch spricht. So kam es vor allem am Anfang vor, dass ich vieles von dem, was um mich herum gesprochen wurde, nicht verstanden habe. Gut kann ich mich jetzt in die Menschen hineinversetzen, die einfach immer „Ja“ sagen, wenn sie dem Gespräch nicht ganz folgen können.
Und so ereignete sich Folgendes (erzählt aus meiner Perspektive):
„Djowieb noiwoudl oijmae jd?“
„Ja!“
„Lidhf dh soiie dmcoriu sipudoijfz du ohue dk mjxnc vbue?“
„Ja!“
Und ungefähr eine halbe Stunde später stand ich zusammen mit Claire und Jean-Philipp irgendwo mitten im Schnee auf Skiern zum Langlaufskifahren, was ich in meinem Leben noch nie gemacht hatte. Es war wunderschön und ein großes Privileg – auch wenn ich vielleicht nicht die allerbeste Figur dabei abgegeben habe.
Es kommt schon vor, dass mein Kopf abends manchmal ziemlich raucht. Explodiert sein kann er noch nicht – ich fühle ja, dass er noch da ist. Aber Risse muss er haben! Zu viel von dem was ich lerne purzelt einfach wieder raus.
Umso mehr genieße ich die langen Spaziergänge, die hier von der Tür aus einfach so möglich sind. Mittlerweile regnet es viel und der Schnee ist schon zu großen Teilen getaut, aber noch vor ein paar Tagen ging er einem weit übers Knie. Ich bin so dankbar für das Geschenk, dass ich hier sein kann, dass ich eine neue Sprache lernen darf und dass es mir solche Freude macht. In einem Monat werde ich schon wieder in Deutschland sein – wahrscheinlich in Quarantäne. Ich peile an im April auszureisen – und was kommt dann? Ich weiß es nicht… aber ich bin gespannt und sicher getragen zu sein!
Februar 2021
Ich habe eben meinen letzten Eintrag hier gelesen und musste schmunzeln. So ruhig war es in meinem Zimmer in der Schweiz gewesen, in meinem kleinen Dorf, mit dem Schnee und dem Wald und der Stille… das scheint nun alles schon lange zurück zu liegen, dabei bin ich erst seit einer Woche wieder in Deutschland.
Mit Stille ist es jetzt erst mal aus. Gerade höre ich wie meine Schwester im unteren Stockwerk saugt, ihre kleine Tochter von etwa einem Jahr beschwert sich dabei lautstark, weil sie auf den Arm will, draußen bellt ein Hund und man kann die Autobahn im Hintergrund rauschen hören. Zur gleichen Zeit besuche ich über Zoom ein Onlineseminar, während sich Französischvokabeln auf meinem Schreibtisch türmen und teilweise ausgepackte Umzugskartons in meinem Gästezimmer verteilt stehen.
Aber alles der Reihe nach:
Meine Zeit in der Schweiz war noch wirklich richtig gut gewesen. Ich habe soooo viel Französisch lernen dürfen! Dennoch begannen Zweifel an mir zu nagen: „Wird das, was ich hier – in 8 Wochen – an Sprache gelernt habe wirklich reichen?“
Vor meiner Ankunft in der Schweiz konnte ich kaum mehr als meinen Namen auf Französisch sagen und doch werde ich im Tschad Französisch in meinem Alltag im Krankenhaus jeden Tag brauchen. Ich sollte darin also einigermaßen flüssig sprechen können. Gleichzeitig werde ich bei der Ankunft in meiner neuen Wahlheimat auch noch damit beginnen Tschad-Arabisch zu lernen. Zwei Sprachen in so kurzer Zeit – werde ich das schaffen?
Nach einiger Zeit des Nachdenkens und der Gespräche mit guten Freunden sowie mit meinem Team vor Ort haben wir beschlossen, meine Ausreise noch ein wenig nach hinten zu schieben und die Zeit zu nutzen, noch ein Praktikum in einem französisch-sprachigen Krankenhaus zu machen. Auch wenn es mir nicht nur leicht gefallen ist, einen bereits gefassten Plan noch einmal zu ändern, bin ich doch auch sehr froh und dankbar darüber. Jetzt hoffe ich einen guten Praktikumsplatz zu bekommen. Meine Bewerbungen sind schon raus. Ich bin gespannt was sich da an Möglichkeiten auftun wird.
Der Abschied aus der Schweiz und den wunderbaren Menschen, die ich dort kennen lernen durfte, war gar nicht so leicht gewesen. Natürlich freute ich mich aber auch darauf all meine Freunde und meine Familie in Deutschland wieder zu sehen.
Es ging also am 25.02.21 zurück mit dem Zug, Ankunft am Bahnhof, direkt weiter zum Corona-test und ab in Quarantäne. Aber die ist wirklich nicht so schlimm, wenn man einen großen Garten auf dem Grundstück hat und eine liebevolle Familie, die einen mit allem versorgt, was man sich nur wünschen kann.
Seit einigen Tagen hat jetzt auch mein Kurs über Tropenmedizin begonnen. Wieder habe ich das Privileg so viele unglaublich gute und spannende Inhalte zu lernen. Ich versuche natürlich neben den medizinischen Vokabeln nun die französischen nicht zu vernachlässigen. Ich hoffe sehr, dass ich die ganzen interessanten Fakten nicht nur aufnehme, sondern auch behalten kann.
Wisst ihr noch wie das war in der Schule? Man konnte das oft gar nicht wertschätzen, was einem alles beigebracht wurde. Heute staune ist selbst manchmal darüber, wie viel Freude ich daran habe all die Neuen Dinge zu lernen. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich mir gut vorstellen kann wofür ich sie brauche. Und dass ich mich darauf freue sie bald auch in der Praxis anwenden zu können.
März 2021
Hundebiss, Geburtshilfe, Zika-Virus, Anämie, Dengue, Projektmanagement, save motherhood, Malaria, Lepra, Mangelernährung, Ateminfektionen bei Kindern, Helminthen, IMCI, primary health care, HIV und Tuberkulose, helping babies breathe, IPCAF, Fieber, Meningitis, Filariosen…
Das – und noch viele weitere ungenannte – waren die Namen der Vorträge, die ich im letzten Monat besuchen durfte. Anfang März startete mein Kurs über Tropenmedizin und public health. „Leider kann der Kurs nicht in Präsenz sondern nur online stattfinden“ stand in der Mail, die wir als Kursteilnehmer kurz vor Beginn erhalten hatten. Das enttäuschte mich ein wenig. Aber dann sollte es doch ganz schön gut werden.
Ich zog bei Ester ein – einer guten Freundin, die ich noch aus Studienzeiten kenne. Sie ist Lehrerin und muss zurzeit, wie viele andere auch, oft von Zuhause arbeiten. Sehr habe ich unsere Tage genossen! Morgens aufstehen, den Sonnenaufgang genießen beim Vokabellernen, den ersten Kaffee kochen und dann nebeneinander am Schreibtisch sitzen. Homeoffice ist so viel leichter, wenn man nicht alleine arbeiten muss. Und zumindest meine Konzentration hält um einiges länger an.
Mein Kurs bestand aus einer Gruppe super interessierter Teilnehmer und richtig kompetenten und erfahrenen Lehrern, die mir persönlich und fachlich wirklich Vorbild sein konnten.
Ich war mir anfangs nicht sicher, ob das wohl über Zoom alles klappt, ob wohl ein gutes Gespräch zustande kommen kann, ob mich das wohl langweilt immer nur zuhause zu sitzen. Aber es war wirklich trotz digitaler Form mega gut! Die Themen waren manchmal so spannend, dass wir lange über unsere Pausen hinaus diskutierten und oft vergessen hatten auf die Uhr zu sehen nur um dann umso erstaunter zu sein, dass dieser Tag schon wieder so schnell zu Ende gegangen war. Ich habe viel gelernt und viel Stoff zum Nachdenken bekommen. Ich sehe vielleicht jetzt nach dem Kurs sogar eher noch mehr Herausforderungen, die im Tschad wahrscheinlich auf mich zukommen werden, aber ich fühle mich auch neu und mit mehr Werkzeugen ausgestattet ihnen zu begegnen.
Sehr habe ich hier im schönen Süden Deutschlands in den letzten Tagen – so wie ihr wahrscheinlich bei euch auch – den Frühlingsbeginn genossen. Das erste Mal dieses Jahr die Füße in den Bach gestreckt, in der Sonne gelegen, Blumennamen gelernt und gelehrt und wenn der Frühling dann auf sich warten lässt trotzdem im Schnee spazieren gewesen. Ich habe viel Zeit mit Gemeinde, Freunden und Familie verbracht, Ostern gefeiert, geredet und gelacht – kurz: Mir ging es wirklich richtig gut im letzten Monat!
Und jetzt die Frage, die euch wahrscheinlich allen unter den Nägeln brennt: „Wie geht es weiter bei dir, Carmen?“
Ich weiß es leider nicht genau.
Gerne würde ich in einem medizinischen Umfeld weiter Französisch lernen. Ich habe mich schon vor einiger Zeit an verschiedenen Stellen für ein Praktikum beworben, aber leider entweder Absagen oder gar keine Antworten bekommen. Jetzt bin ich weiter und breiter am Suchen, wie ich die nächsten Wochen sinnbringend möglichst zur Verbesserung meiner noch recht mangelhaften Sprachkenntnisse einsetzten kann. Das geht sehr schleppend voran und ist oft frustrierend. Wegen der aktuellen Lage der Pandemie, die uns ja alle betrifft, sind viele Möglichkeiten eingeschränkt. Manchmal bin ich ein wenig frustriert und ungeduldig. Aber ich freue mich sehr über euere Unterstützung und hoffe, dass bald klar wird, was konkret der nächste Schritt ist. Ich bin sicher, dass ich und wir getragen sind! Immer wieder komme ich darüber ins Staunen und Loben.
April 2021
Danke, dass ihr mit mir unterwegs seid! Im Ernst – im letzten Monat ist es mehr als einmal vorgekommen, dass ich innehalten musste vor Staunen, über die Hilfe und die Unterstützung, die ich aus so vielen unterschiedlichen Richtungen bekommen habe! Oft ohne vorher überhaupt damit zu rechnen! Eine ermutigende E-Mail, eine Nachricht auf meinem Handy „Wir denken an dich!“, kreative Ideen zum Sprache lernen aus verschiedenen Ländern von Menschen, denen ich zum Teil noch nie begegnet bin, ein Buch über Tropenmedizin, finanzielle Unterstützung, obwohl ich noch nicht einmal ausgereist bin, eine Einladung zum Essen, gemeinsam Alltag leben, ein Gespräch über Zweifel und Fragen.
Und das mitten in einer Zeit, in der ich mich gar nicht besonders „nützlich“ fühle. Ihr wisst vielleicht noch, dass ich – um mein Französisch zu verbessern – ein medizinisches Praktikum in einem französischsprachigen Umfeld gesucht habe. Viele Anfragen sind im Sand verlaufen. Viele Absagen habe ich bekommen. Um ehrlich zu sein, habe ich mich schon ein bisschen ausgebremst gefühlt. Und immer und immer wieder bin ich dabei zu lernen meinen Wert nicht von meiner Leistung abhängig zu machen. Zu glauben, dass „nützlich“ zu sein, vielleicht nicht immer das ist, was ich - was wir - sein sollen.
Ich will nicht sagen, dass ich es nicht gut hatte die letzten Wochen! Ich wohne immer noch in Tübingen und fühle mich soooo wohl. Seit drei Wochen besuche ich jeden Nachmittag einen online Kurs, um weiter Französisch zu lernen und auch sonst füllt die Sprache einen großen Teil meines Alltags aus. Auf verschiedenen Wegen versuche ich sie lieb zu gewinnen und das klappt auch tatsächlich. Ein Podcast, ein Film, Bücher und Nachrichten, E-mails und Telefonate. So viel Freude habe ich daran, lernen zu dürfen! Trotzdem habe ich irgendwie darauf gewartet wie es weiter geht. Was der nächste Schritt ist.
Und gestern kam endlich die so lang erwartete Zusage: Ich kann nach Frankreich gehen! Ich werde in einer französischen Familie wohnen und darf mit einer Allgemeinmedizinerin 3x die Woche in einer Praxis mitarbeiten, vor allem um medizinisches Vokabular zu lernen. Ich habe mit der Familie telefoniert und sie machen einen super netten Eindruck! Als ich die Zusage bekommen habe, folgte ein kleiner Freudentanz! Ich bin so dankbar! Danke, dass ihr mit mir gebetet und gewartet habt! In zwei Wochen geht es los.
Vielleicht habt ihr auch von der aktuellen Situation im Tschad gehört. Der Präsident, Idriss Déby, starb kurz nach seiner Wiederwahl an Verletzungen im Kampf gegen Rebellen. Sein Sohn übernahm die Führung des Landes. Auch wenn es aktuell weitgehend ruhig ist in der Hauptstadt, ist noch nicht ganz klar, in welche Richtung sich das alles weiter entwickelt. Die Lage ist angespannt. Mein Team hat entschlossen etwas früher in den geplanten Heimataufenthalt über den Sommer zu gehen. Bitte denkt an die Menschen im Land, die es nicht einfach verlassen können, die schon genug leiden unter Armut und Unsicherheit. Ich wünsche mir Weisheit für Politiker und Stabilität im Land. Bitte betet, dass sich die Lage auf eine Art und Weise löst, die gut für die Menschen dort ist! Dass es nicht zu Gewalt und Ausschreitungen kommt. Für mich wird sich in der Planung (meine Ausreise ist für September angedacht) erst mal nichts ändern.
So, nach Wochen in denen bei mir gefühlt gar nichts passiert ist, waren das jetzt doch ein paar Neuigkeiten. Ich bin auf der einen Seite natürlich mega dankbar und auf der anderen voller Sorge für meine neue Wahlheimat! Und gespannt wie es weitergeht. Ich weiß – ich habe es schon geschrieben, aber ich meine es wirklich: Danke für eure Unterstützung, auch wenn bei mir nicht immer alles glatt läuft!
Juni 2021
Ich mag es hier!
Seit einigen Wochen bin ich jetzt schon in Douai, einer kleinen Stadt in Nordfrankreich und ich mag es hier! Die engen Gassen, die hohen Häuserschluchten, die Kanäle, auf denen die Leute in Booten wohnen, die alten Häuser mit den hohen Decken und den Treppen aus knarzendem Holz. Ich mag, dass ich mich in der Stadt so langsam auskenne, dass es nicht so weit bis zum Meer ist, ich mag den vielen Regen, der hier alles unglaublich grün malt. Ich mag die Leute hier wirklich sehr gerne, die offen und freundlich sind, die immer wieder über mein holpriges Französisch lachen und die gleichzeitig einen wirklich unverständlichen Dialekt reden – „Sch‘ti“. Aber vor allem mag ich die vielen kleinen Cafés in denen man sitzen, lesen, lernen, ins Gespräch kommen und natürlich wirklich guten Kaffee trinken kann. Und in einem solchen Café arbeite ich.
Ich weiß nicht mehr genau, was ich erwartet hatte, als ich hier her gekommen bin – ich denke es hatte viel mit Französisch lernen zu tun. Und das ist es natürlich auch, was mich in meinem Alltag unglaublich beschäftigt. Ich arbeite drei Tage in der Woche in einer Hausarztpraxis mit. Das ist eine mega Gelegenheit für mich auch medizinisches Vokabular zu lernen. Die Ärztin - Amandine, die mich unter ihre Fittiche genommen hat, ist wirklich unglaublich lieb! Sie spricht kein Wort Deutsch oder Englisch, was mich herausfordert, aber eben auch zwingt wirklich Französisch zu sprechen. Am Anfang war es hart! Die Patienten sprechen schnell und dazu eben oft noch den hier geläufigen Dialekt. Egal wie sehr ich mich zur Konzentration gezwungen hatte, konnte ich oft dem Gespräch nicht folgen. Das wird jetzt langsam tatsächlich besser. Immer mehr komme ich mit und bin auch nicht mehr total ohne Worte, wenn mich jemand anspricht.
Dennoch bin ich nach einem Arbeitstag mit Amandine abends oft so fertig, dass ich in meiner Gastfamilie kaum noch ein Wort herausbekomme, beim Essen vor mich hinträume und nur mitbekomme, dass man mit mir spricht, wenn mein Name zusammen mit einem kleinen Stups mich aus meinen Gedanken reist. Aber auch meine Gastfamilie ist zum Glück super nett und geduldig mit mir. Die beiden Kinder (6 und 8 Jahre) lesen mit mir zusammen französische Kinderbücher und verbessern dabei ausdauernd meine Aussprache und meine Fehler. Wahrscheinlich gehören sie mit zu den besten Lehrern die ich haben könnte!
Seit einiger Zeit schon arbeite ich jetzt außerdem – wie oben bereits erwähnt – auch noch in einem Café mit. Das macht mir unglaublich Freude, auch wenn es manchmal eine ganz schöne Herausforderung ist. Und damit meine ich nicht nur die eigentliche Arbeit im Café an sich… Auch wenn es schon gelernt sein muss einen schönen Crêpe zu machen, Cappuccino zu kochen, Fruchtsäfte zu pressen und das Ganze noch zu servieren ohne auf dem Weg die Hälfte zu verlieren. Die eigentliche Herausforderung ist es aber, die Gäste anzusprechen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Das Café, in dem ich arbeite, ist kein gewöhnliches Café. Es soll ganz bewusst ein Ort für Begegnungen und Gespräche sein, zu dem Menschen kommen können, wenn sie reden wollen, wenn sie Gemeinschaft suchen, natürlich auch, wenn sie einfach nur guten Kaffee wollen… Die Gründer des Cafés haben sich zum Ziel gesetzt auf diese Art und Weise in ihrer Stadt einen Unterschied zu machen. „L’autre estaminet“ ist bei den Gästen auch genau dafür bekannt. Und die Leute, die dort servieren – also ich – sind Menschen mit denen man reden kann. Für mich war das am Anfang eine mega Überwindung! „Ich kann das nicht! Ich konnte das noch nie! Und auf Französisch erst recht nicht!“ Dann habe ich es trotzdem gemacht! Und ja – die Leute lachen manchmal über mein holpriges Französisch, aber die Wahrheit ist, die meisten freue sich wirklich ein bisschen zu erzählen. Besonders leicht fällt es mir mit den Zugezogenen, die selbst Französisch lernen mussten. Dann erzählen sie von ihrer ursprünglichen Heimat und fragen mich nach meiner. Sie erzählen warum sie nach Frankreich gekommen sind, wo sie hinwollen, was sie für Träume haben und was sie denken was der Sinn des Lebens ist… Und dann sind wir mitten im Gespräch.
Ich mag es hier! Ich mag, dass wir immer wieder herausgefordert werden Neues zu lernen und über unseren Schatten zu springen. Und ich glaube, dass wir mit all dem ausgestattet werden, was wir dafür brauchen.
Juli 2021
Kennt ihr das auch? Wahrscheinlich schon! Manchmal rast die Zeit in einer Geschwindigkeit an uns vorbei, dass wir kaum einen Moment haben innezuhalten und mal Luft zu holen! So geht es mir gerade! Ganz schön turbulent in meinem Kopf. Und wenn ich dann innehalte und stehen bleibe, um zu reflektieren was gerade eigentlich passiert ist, komme ich ganz schön außer Atem. Eben noch war ich in Frankreich, jetzt sitze ich schon wieder in Deutschland und arbeite mich durch die Beantragung meines Visums, freue mich auf meine Ausreise und frage mich gleichzeitig, was ich wohl noch alles vorher erledigen sollte und was ich auf keinen Fall vergessen darf. Ja, denn bald geht es los! Aber – damit bei euch nicht auch so ein Karussell im Kopf entsteht, wie bei mir – hier mal alles der Reihe nach erzählt:
Ende Juli bin ich aus Frankreich nach Deutschland zurückgekommen. Im Rückblick kann ich nur dankbar sein, über die wunderschöne Zeit, die ich dort hatte! Für alles was ich an medizinischen und sprachlichen Kenntnissen mitnehmen darf, aber eben besonders auch für die wunderbaren Menschen, die ich kennen gelernt habe, und die mein Leben außerordentlich bereichert haben!
Gerade auch in Café und Gemeinde habe ich wirklich gute Freunde gefunden, die mich mit in ihren Alltag genommen haben, mich an ihrem Leben teilhaben ließen, mit denen ich manchmal trotz Sprachbarriere tiefe Gedanken teilen durfte, mit denen ich Abenteuer erlebt und gelacht habe. So war es schon auch gar nicht so einfach Abschied zu nehmen, ohne zu wissen wann und ob man sich in den nächsten Jahren wieder sehen wird.
Anfang August habe ich dann noch meine Eltern besucht, die auf dem Balkan ehrenamtlich in einer Drogen-Reha mitarbeiten.
„Carmen, wenn du dann aber im September gehst, dann sehen wir dich ja gar nicht mehr!“ hat meine Mama am Telefon treffend erkannt – und kurz entschlossen habe ich einen Flug gebucht. Das war ein bisschen spontan aber irgendwie auch ein besonderes Highlight meiner letzten Wochen! Wir haben es sehr genossen gemeinsam Zeit zu verbringen, uns auf den neusten Stand zu bringen, zu lachen, das schöne Wetter und die Landschaft zu genießen und auch gemeinsam Abschied zu nehmen.
Wieder in Deutschland hat ein ganz anderer Zeitabschnitt begonnen! Ich habe einen Flug in den Tschad für den 21.09.2021 gebucht und kümmere mich nun um Visum (wäre so schön, wenn das alles gut und unkompliziert klappt), Gepäck (was braucht man eigentlich alles? Was muss ich noch versorgen? Was will ich unbedingt mitnehmen?), Kommunikation mit meinem zukünftigen Krankenhaus im Einsatzland (bisher viel über Telefon und E-Mail… wie wird das alles wenn ich mal dort bin?), deutsche und tschadische Behörden (nicht gerade meine liebste Beschäftigung)… Und natürlich freue ich mich riesig alle meine Freunde hier in Deutschland und meine geliebte Familie wieder zu sehen.
Ich bin dankbar noch einmal ein wenig Zeit zu haben auch hier die Gemeinschaft nochmal besonders zu genießen und so Abschied zu nehmen.
Ihr habt bestimmt beim Lesen mittlerweile gemerkt, dass eben „Abschied“ gerade ein großes Thema für mich ist. Ich freue mich auch sehr auf das was vor mir liegt, aber es ist gleichzeitig noch ganz schön fern und ungewiss, während ich den Prozess hier loszulassen doch ganz schön spüre in meinem Herzen. Danke, dass ihr mit mir da durch geht!
Vieles, was vor uns liegt ist ungewiss. Aber Gottes Liebe für uns nicht! Das ist ganz schön cool! Und gerade in Zeiten, die ein bisschen stressiger und unsicherer sind ist es manchmal gut sich daran zu erinnern.
September 2021
Flexibilität! Das ist das Wort des Monats für mich geworden! Ich hatte ein paar sehr gute Pläne, die überhaupt nicht funktioniert haben. Und dann hatte ich auch gar keine Pläne für manches, das aber trotzdem klappen durfte. Und jetzt schaue ich nach vorne und bin froh, wenn ich weiß, was der ungefähre Plan für morgen ist, immer mit dem Gedanken, flexibel zu bleiben, weil ganz sicher kann man hier nie sagen, ob etwas so läuft wie geplant. Und ja – mit „hier“ meine ich tatsächlich den Tschad! Ich bin in meiner neuen Wahlheimat angekommen! – zumindest körperlich…
Ihr erinnert euch bestimmt daran, dass ich einen Flug für den 21.09.21 gebucht hatte. Leider war in der Woche davor mein Visum immer noch nicht angekommen. Also rief ich bei der Botschaft an, um mal nachzufragen. Es stellte sich heraus, dass wir (ich und Sarah – die ebenfalls hier arbeiten wird) selbst nach Belgien fahren mussten, um unsere Pässe dort persönlich abzuholen. Als der freundliche Herr mir das am Telefon erklärte, musste ich erst mal tief durchatmen und gegen meine Frustration ankämpfen. Nur änderte das ja nichts… - Flexibilität! So sind wir also nur zwei Tage nach dieser Nachricht morgens um 4.00 Uhr mit dem Auto los – haben in der Botschaft dort um 12 Uhr mittags unsere Pässe abgeholt – und waren abends um 23.00 Uhr wieder zuhause.
Habt ihr das schon erlebt, dass die Fluggesellschaft mir der ihr gebucht habt, Flüge zusammenlegt und so der eigene Flug ein paar Stunden nach vorne oder hinten verschoben wird? Sichelich – das ist auch meistens nicht so ein Problem. Auch bei uns handelte es sich nur um ein paar Stunden nach vorne. Wir sollten statt am 22.09.21 um 0:44 Uhr nun am 21.09.21 um 17.55 in N‘Djamena ankommen. Das Problem war nur, dass mein Visum erst ab dem 22. gelten sollte und ich ohne gültiges Visum nicht fliegen durfte. Ich konnte diesen Flug nicht mehr nehmen. Nur drei Tage vor meiner geplanten Abreise musste ich nochmal umbuchen. Als ich das erfahren hatte, musste ich von neuem tief durchatmen und gegen meine Frustration ankämpfen. Nur änderte das ja nichts… - Flexibilität! Also habe ich den Flug (tatsächlich am Ende wirklich – und Gott sei Dank – ganz unkompliziert) auf vier Tage später umgebucht.
Und endlich am 25.09.21 war es dann soweit! Ich wurde von meiner lieben Familie am frühen Morgen und mit viel Gepäck an den Flughafen gebracht und durfte – völlig ohne Schwierigkeiten – abends in der Hauptstadt hier ankommen.
Seit ich nun hier bin, scheint die Zeit zu rasen. Alles ist neu und spannend und überwältigend und noch ganz schön viel. Ich werde versuchen euch ein bisschen in meine ersten Eindrücke mitzunehmen:
Es sind überall viele bunt gekleidete Menschen unterwegs. Der Verkehr funktioniert nach einem Muster, das ich noch überhaupt nicht verstanden habe. Es ist wirklich sehr warm und man schwitzt die ganze Zeit. Überall sind Geräusche: Motoren und Hupen, Grillen, Hunde, Menschen, die lachen und rufen, Gebetsrufe, das Geräusch von Ventilatoren und Klimaanlagen, Vogelgezwitscher, Musik und das alles bei Tag und bei Nacht. Im Auto sitzt man dicht gedrängt und um einen herum reden die Menschen in verschiedenen Sprachen. Das Französisch klingt sehr anders als ich es gelernt habe und arabisch ist noch ein komplettes Geheimnis für mich. Die meisten Menschen sind aber sehr nett und super hilfsbereit. Jeder Tag ist ein kleines oder auch größeres Abenteuer für mich. Wie geht man eigentlich einkaufen? Und was kann man kaufen? Wie kleidet man sich hier – im Haus und auf der Straße? Wie wäscht man die Wäsche, ohne Waschmaschine? Wie wäscht man sein Gemüse? Welches Wasser kann ich trinken? Und so viele weitere Fragen, die mir Stück für Stück beantwortet werden. Ihr findet meine Beschreibung ein bisschen chaotisch? Ja – so geht es mir auch! Ich fühle mich ein bisschen wie ein kleines Kind, dem man gerade beibringen muss seinen Alltag zu leben.
So ist es für mich ein großes Privileg, meine erste Zeit hier in einer einheimischen Familie leben zu dürfen! Ich hoffe viel von ihrer Kultur und ihrer Lebensweise lernen zu können!
Außerdem ist mein Team wirklich spitze und eine mega Hilfe für mich! An einem Morgen hatte ich ein langes, ausführliches und gutes Gespräch mit meinen Teamleitern über die oben genannten Pläne bezüglich des Wohnens: „Die Wohnung, die wir für dich geplant hatten… in die kannst du jetzt nicht. Da ist was dazwischen gekommen“, sagte Emy zu mir – ich atmete tief ein. War das Frustration, die in mir aufsteigen wollte? „aber wir haben schon etwas anderes für dich, das vielleicht klappen könnte. Wir hoffen, dass du da bald einziehen kannst. Hier muss man ganz schön flexibel sein manchmal!“ Ich atmete wieder aus. Flexibilität! Das hatte ich in letzter Zeit irgendwie schon öfter gehört. Am Ende durfte es außerdem klappen! Ich bin vor zwei Tagen in meine neue Wohnung eingezogen. Und auch das war, und ist jeden Tag noch ein ganz schönes Abenteuer für mich. Aber davon muss ich euch unbedingt das nächste Mal berichten!
Ihr seht: Viele sehr gute Pläne, die wir manchmal machen, lösen sich in Luft auf. Ich habe aber in den letzten Wochen erlebt, dass Gottes Pläne für mich manchmal zwar anders, aber vielleicht auch besser sind. Ich bin gespannt was die Zukunft bringen wird, und ob alles so läuft wie ich es mir vorstelle… Wahrscheinlich nicht. Aber ich lerne zu vertrauen – immer wieder zu vertrauen, dass Gott es wirklich gut mit uns meint!
Oktober 2021
Heiß scheint die Sonne mir auf den Kopf und heiß rieselt der Sand am Boden durch meine offenen Schuhe. Um die 40°C hat es hier mittlerweile am Mittag und es ist sehr trocken und staubig. Aber nachts kühlt es oft unter 25°C ab und das ist gar nicht so schlecht! Dafür bin ich sehr dankbar und lächle zufrieden trotz der Hitze. Ich bahne mir einen Pfad vorbei an den Müllhaufen, immer wieder einem Motorrad ausweichend oder einige Leute am Straßenrand freundlich grüßend. Ich bin auf dem Weg vom Sprachunterricht nach Hause. Heute hatte ich eine gute Zeit mit Tanja, meiner Sprachhelferin und Sarah, der Kurzzeitlerin, die gleichzeitig mit mir hier angefangen hat. Wir haben einige neue Verben gelernt, dazu noch Farben und uns dann übers einkaufen unterhalten. Ich muss schmunzeln, weil ich, wenn ich an Tanja denke, auch immer gleich ihre Stimme in meinem Kopf höre, mit der sie ein Wort in unglaublicher Geduld immer und immer wieder wiederholt. Wir haben heute außerdem gemeinsam „ich sehe was, was du nicht siehst“ gespielt und mussten richtig lachen dabei. Das war schön!
„He Madam“ reißt mich eine Stimme aus meinen Gedanken, die mir Schreibwarenartikel verkaufen will. Ich laufe über einen Markt „Souch cholera“ genannt auf dem Weg zu einer der Hauptstraßen. Hier stehen viele Tische aneinander gereiht und die Leute bieten ihre Waren an. Medikamente, Gläser, Mülleimer, Hühner, Tische, Töpfe und so vieles mehr. Manchmal kaufe ich hier Obst und Gemüse von einer der Frauen, die mich bereits kennen und fröhlich grüßen, wenn ich an ihnen vorbei gehe. Aber heute brauche ich nichts. „Ana ma nidore“ – „Ich möchte nicht“ weise ich den Verkäufer mit meinen ersten paar Worten Tschad-arabisch – auf die ich auch sehr stolz bin – freundlich zurück.
Und sofort wandern meine Gedanken wieder weg vom regen Treiben um mich herum, nach Hause und zu meiner Gastfamilie, die ich in den wenigen Wochen in denen ich nun bei ihnen wohne, schon richtig lieb gewonnen habe…
Oh Ihr Lieben! Manchmal wünschte ich, ich könnte euch alle hier her mitnehmen und euch ein bisschen mehr zeigen von meinem Alltag und von dem Leben hier. Es ist so anders, als ich es mir vorgestellt habe! Und manchmal fehlen mir die Worte, um zu beschreiben, was ich hier alles sehe und erlebe. Und dann wieder scheint es mir so viel zu sein, dass ein kurzer Eintrag hier einfach nicht ausreicht, um all meine Eindrücke weiter zu geben. Deswegen oben nur ein paar kurze Gedanken aus einem ganz normalen Tag.
Ihr fragt, ob es mir gut geht? Ja! Ich denke schon :) Gut ist nur ein so kurzes Wort, um das zusammen zu fassen. Jeden Tag prasseln neue Eindrücke auf mich ein. Vor allem am Anfang war das super anstrengend. Mittlerweile wird es langsam besser, weil mich nicht mehr alles überrascht, oder meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. So kann ich mich mittlerweile in der Stadt gut mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurecht finden. Auch der Sprachunterricht – den ich außerdem liebe – ist schon ein bisschen zur Routine geworden. Mein Zimmer, in der einheimischen Familie ist ein Zuhause geworden und ich liege jetzt auch nachts nicht mehr wach und versuche all die Geräusche um mich her einzuordnen. Meine Familie hier hat mir mittlerweile gezeigt, wie man wäscht, ich habe den hier typischen Kaffee schon lieb gewonnen und mittlerweile eine eigene kleine Kochstelle, wo ich auch selbst mal einen Kaffee kochen kann. Ich kenne die Namen meiner Nachbarn und die Kinder laufen auch nicht mehr schreiend vor mir davon, sondern auf mich zu und grüßen mich fröhlich mit „Nafisa“ – dem arabischen Namen, den sie mir hier gegeben haben.
Manches ist noch sehr schwer. Die Kultur hier ist mir doch in vielem so fremd und manchmal fürchte ich in ganz schreckliche Fettnäpfchen zu treten und mich zu Tode zu blamieren oder Leute ganz schrecklich vor den Kopf zu stoßen. Und dann brauche ich immer wieder Mut und Kraft, immer und immer wieder meine Komfort-Zone zu verlassen, neue Leute kennen zu lernen, neue Orte aufzusuchen, ins Gespräch zu kommen und mich weiter zurecht zu finden.
Schwer ist auch, dass ich unter ihnen natürlich der Außenseiter und Sonderling bin. Manchmal bin ich dann einsam und sehne mich danach erzählen zu können und verstanden zu sein. Deshalb bin ich unglaublich dankbar für mein Team hier, das mich so liebevoll aufgenommen hat. In so vielen Dingen bekomme ich von ihnen Unterstützung und auch Freundschaft weit über das von mir erwartete Maß hinaus. Dankbar bin ich auch für die Technik, die es mir trotz häufiger Stromausfälle erlaubt einfach – von meinem Zimmer hier in N’Djamena in ein Zimmer in Deutschland zu telefonieren. Das ist schon ein krasses Wunder für mich, der doch so gar nichts davon versteht, wie das nur funktionieren kann.
Ob es mir gut geht? Ja ich denke schon! Ich bin auf jeden Fall unglaublich dankbar für Gottes Gnade hier sein zu dürfen, denn nur aus seiner Gnade ist es möglich! Ich bin unglaublich dankbar, für all das was ich hier erleben darf und für alles was unser Vater noch für mich bereithält!
November 2021
Dankend nehme ich die kleine Tasse, gefüllt bis zum Rand mit Chai, entgegen. Ich trinke ein paar kleine Schlucke des heißen und stark gesüßten Tees und bin froh etwas in der Hand zu haben, an dem ich mich fest halten kann, während ich etwas verunsichert die Frauen um mich herum beobachte. Tanja, meine Sprachlehrerin, hat mich zu sich nachhause zu einer Sadaha eingeladen – einer Trauerfeier, weil einer ihrer Verwandten verstorben ist. Froh und dankbar, einen Einblick in die Kultur zu haben und außerdem Tanja und ihre Familie besser kennen zu lernen, hatte ich gestern zugesagt. Jetzt sitze ich auf einem Teppich, während Tanja mit ihrer Familie das Essen zubereitet und warte mit all den anderen Frauen darauf, dass sie wieder kommt. Hier bin ich in einem fremden Haus, einer fremden Kultur, umgeben von Fremden, die ich nicht verstehe und die mich eher misstrauisch als einladend mustern – und ich frage mich, was ich eigentlich nochmal hier wollte. Ich ärgere mich zum wiederholten Male über meine wirklich bruchstückhaften Sprachkenntnisse. Mehr als über ein paar Worte komme ich einfach noch nicht hinaus. Das macht mich zu unsicher, um auf eine der Frauen mit mehr als „Friede sei mit dir“ zuzugehen. Weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, fange ich in Gedanken an zu beten.
„Ah Nafisa! Inti aave?!“ – wie geht es dir – begrüßt mich da eine fröhliche junge Frau, die eben den Raum betritt. Ich erinnere mich, dass ich sie schon einmal mit Tanja auf einer anderen Feier gesehen habe. Froh, von jemandem angesprochen zu werden, erwidere ich ihren Gruß. Sie setzt sich zu mir und verwickelt mich schnell in ein lebhaftes Gespräch, in dem sie redet (viel zu schnell, als das ich alles verstehen würde) und ich immer mal wieder ein paar Worte einwerfe. Nun siegt bei vielen der anderen Frauen doch die Neugierde über das Misstrauen und schnell bildet sich eine kleine Gruppe. Sie stellen mir viele Fragen und lachen, wenn ich Hände und Füße benutze, um zu antworten. Die anfängliche Scheu ist auf beiden Seiten schnell vergessen.
„Nimm mich mit nach Deutschland, ich will einen deutschen Mann“, sagt schließlich Sonja, die junge Frau, die mich zuerst angesprochen hat.
„Warum?“, frage ich.
„Die Männer in Deutschland sind besser.“
„Die Männer in Deutschland sind nicht besser. Es gibt überall gute und schlechte Menschen.“
„Sie redet wahr“, kommentiert nun eine dritte Frau an Tanja gewandt, die sich uns mittlerweile angeschlossen hat.
Im Stillen macht mich das froh. Ich kann noch nicht viel reden, aber umso mehr, wünsche ich mir, dass mein Verhalten dazu beiträgt Vorurteile abzubauen und Türen zu öffnen.
Nicht überall ergeben sich Gespräche wie dieses. Manchmal sitze ich einfach nur unter den Frauen und höre die meiste Zeit zu oder versuche zu beobachten und zu verstehen, was um mich herum eigentlich passiert – und auch das gelingt mir bei Weitem nicht immer. Oft bin ich frustriert, weil mir einfach die Worte fehlen. Und manchmal verlaufen Begegnungen sogar sehr negativ, weil die Menschen hier – wie auch wir – Vorurteile gegen Fremde haben, oder ich mich unangebracht oder sogar schlichtweg unfreundlich verhalte. Ich werde hier viel beobachtet und in meiner Straße kennen die meisten meinen Namen (während ich nicht einmal ihre Gesichter wiedererkenne). Nicht immer gelingt es mir einen guten Eindruck zu hinterlassen.
Die Menschen hier aber, wie meine Sprachhelferin Tanja oder meine Gastfamilie und auch die Nachbarn, die ich und die mich immer besser kennenlernen, die sind mir bereits ein großer Schatz geworden. Unglaublich geduldig unterrichtet mich die kluge Tanja nicht nur in ihrer Sprache, sondern auch in so vielen Besonderheiten ihrer Kultur. Meine Gastfamilie hilft mir in so vielem. Sie lachen manchmal ein bisschen über mich, aber umso öfter mit mir. Sie nehmen mich herzlich in ihre Gemeinschaft auf und vermissen mich, wenn ich ein paar Tage nicht da bin. Und schaffen damit Stück für Stück ein neues Zuhause für mich.
Januar 2022
Ein braunes Kleid hat sich über die Stadt gelegt. Wie dichter Nebel, durch den die Sonne nur schwer zu dringen vermag. Nur ist es kein Nebel. Es ist Staub und Sand. Der trockene Wind, der ihn aus der Wüste mit sich trägt, weht mir tagsüber den Lafai – das große Kopftuch das ich hier trage – immer wieder vom Kopf und nachts dringt er durch jede Ritze meines schlecht isolierten kleinen Häuschens und lässt mich meine warme Decke bis über beide Ohren ziehen. Ich lächle wenn ich mich daran erinnere, als mir die Maama – wie meine Gastmama hier von allen genannt wird – dabei geholfen hat die Decke zu kaufen. Irgendwie hatte ich vorher bestimmt nicht erwartet, dass das eine meiner (bisher) größten Anschaffungen werden würde. Wer hätte gedacht, dass es im Tschad so kalt werden kann.
„Salam aleikum!“ – „Ua aleikum Asalam!“
„Friede sei mit dir!“ – „Und mit dir sei auch Friede!“
„Wie geht es dir“ – „Gut und dir“
„Gut! Wie geht es deiner Familie“ – „Gut! Wie geht es den Leuten bei dir zuhause“
„Gut!“ – „Alhamdilela! Geht es deiner Mutter gut?“
„Gut! Und deinen Kindern?“ – „Allen gut! Und dem Vater?“
„Gut! Wie geht es den Eltern?“ – „Gut! Wie geht es deinen Kindern?“
„Gut!“ – „Alhamdilela! Und was macht die Kälte?“
„Sehr kalt!“ – „Besonders nachts!“
„Was macht der Staub in der Luft?“ – „Viel Staub in der Luft! Wie geht es den Geschwistern?“
…
So ungefähr begrüßt man sich hier auf der Straße – wobei die Unterhaltung im selben Stil noch lange so weiter gehen kann. Im Sommer ersetzt man natürlich „Kälte“ einfach mit „Hitze“, und „Staub“ dann irgendwann mit „Regen“. Ich bin sehr dankbar für die „Kälte“, mit der wir unsere 12-15°C nachts und knappe 30°C tagsüber beschreiben. Ich denke der Sommer wird noch einmal eine ganz andere Nummer werden, aber froh bin ich schon über meine Decke.
Nur heute schlafe ich nicht bei mir zuhause. Schon seit einigen Tagen liege ich mit einer heftigen Erkältung im Bett und da es bei meinen Teamleitern – trotz meiner warmen Decke – doch nochmal um einiges komfortabler ist, haben die Lieben mich zu sich eingeladen, bis es mir wieder besser geht. Ich bin ein bisschen frustriert krank zu sein, habe ein bisschen Heimweh und bemitleide mich ein wenig selbst, auch wenn Isa und Iman wirklich Schätze sind und mich mit Tee und Suppe und freundlicher Fürsorge umgeben. Da klopft es an der Tür und ich höre Iman mit einer weiteren bekannten Stimme auf Arabisch reden. Die Maama kommt mich besuchen. Vielleicht liegt es daran, dass ich krank bin und deswegen wahrscheinlich ein bisschen emotional, aber irgendwie treibt mir das vor Freude die Tränen in die Augen. In dieser Kultur hier ist es Brauch einander zu besuchen. Jemanden zu besuchen, bedeutet, dass man ihn mag – man macht sich auf den Weg zu ihm und der Besuchte ist der Geehrte (während bei uns in Deutschland ja oft eher der Eingeladene der Geehrte ist). Da ich aber noch nicht so viele Menschen gut kenne, war bisher immer ich diejenige, die die Anderen besucht hat. Dass Maama nach mir schauen kommt, wie man das bei kranken Familienmitgliedern so macht, ist das erste Mal, dass sich jemand aus dieser Kultur hier auf den Weg zu mir macht. Und irgendwie bedeutet das auch, dass ich ein klein wenig zu ihrer Familie dazu gehöre. Und das rührt mich wirklich sehr!
Auch wenn das nur ein kleiner Augenblick war, hat er mir doch unglaublich viel bedeutet! Ihr seht, so ganz langsam und immer mehr in ganz kleinen Schritten, fange ich an hier dazu zu gehören und mich auch immer mehr zuhause zu fühlen. Und dafür bin ich sehr sehr dankbar!
Wenn ich aber nicht gerade im Bett liege und mich über Besuch freue, bin ich in meinem Alltag ganz schön beschäftigt. Viel besteht er aus Arabisch lernen, da ich weiterhin jeden Morgen Sprachunterricht habe. Immer noch komme ich viel zu langsam voran, vor Allem jetzt, wo mein Start im Krankenhaus immer näher rückt und ich dann viel weniger Zeit haben werde, um in Sprache zu investieren. Im April will ich dort anfangen. Das bedeutet auch, dass ich eine Wohnung in der Gegend meines neuen Arbeitsplatzes brauche. Ein paar Sachen habe ich mir schon angeschaut, aber bisher war noch nicht so das ganz passende dabei. Ich bete, dass Gott auch da einen Platz für mich vorbereitet. Sowohl im Sinne einer Wohnung, als auch im Team des Krankenhauses. Ich freue mich darauf dort anzufangen, gleichzeitig bin ich aber auch ein bisschen aufgeregt, wie das wohl alles werden wird.
Noch ein kleines großes Highlight zum Schluss: Dineke aus meinem Team hat letzte Woche im Rahmen einer Hausgeburt einen gesunden kleinen Manuel geboren. Das ist wirklich ein riesen Grund zum Danken! Allen geht es gut und sie sind gerade dabei sich wieder zu erholen und einzuleben in die neue Situation!
Februar 2022
Ich setze mich zu meiner tschadischen Gastschwester Julia ins Wohnzimmer. Eigentlich ist das Wort „Wohnzimmer“ nicht so ganz der richtige Begriff. Das ganze Haus besteht nur aus drei Räumen – Dem ersten Raum, den ich hier Wohnzimmer genannt habe, in dem die Frauen aber auch schlafen und essen und sich eben aufhalten, wenn sie nicht gerade draußen im Hof sind. Dieser Raum hat keine Fenster. Die Wände sind von schweren Vorhängen versteckt und ein Wellblechdach schützt vor Regen und Sonne. Auch Möbel gibt es keine. Man sitzt auf dem Boden auf einem dicken Teppich und zum Schlafen werden die Decken aus dem hinteren Raum – den ich noch nie betreten habe – geholt und die Moskitonetze aufgehängt. Dann gibt es noch einen weiteren Raum für die Männer, aber auch der ist für mich natürlich tabu. Gekocht wird entweder draußen oder in einem kleinen Verschlag der ebenfalls aus Wellblech gezimmert ist. Die meiste Zeit des Tages aber, und oft sogar nachts, hält sich die Familie im Hof auf und geht ihrer Arbeit unter dem schattenspendenden Baum in seiner Mitte nach.
Heute jedoch ist Julia wegen des starken Windes und des vielen Staubes, den er mit sich trägt, drinnen geblieben. Ich muss mich bücken, um durch die niedrige Türe zu ihr herein zu kommen. Der dunkle Vorhang vor ihr ist auf die Seite gezogen. Während ich vom Tageslicht ins schummrige Dunkel trete, sieht Julia mich gegen die Sonne schon seit weitem kommen und ruft mich fröhlich herein. „Heute kommst du früh von der Schule zurück“, sagt sie und schickt sofort die jüngere Schwester, mir etwas zu trinken und ein Messer für die Orangen und Bananen zu holen, die ich vom Markt mitgebracht habe. Während wir auf das Wasser warten, setze ich mich im Schneidersitz neben Julia, die auf ein Kissen gestützt auf dem Teppich liegt. Sie ist im achten Monat schwanger und gestern hatte sie außerdem starke Bauchschmerzen. „Wie geht es dir heute?“ Frage ich besorgt, doch sie winkt schnell ab – viel besser.
Nachdem wir eine Weile über das Wetter, den Staub und das Befinden all unserer Bekannten geredet haben, werden wir stiller. Ich nasche von den Heuschrecken, die die Nachbarin heute Morgen gebracht hat und beobachte die Mücken, die nah am Boden fliegen, um noch ein paar Reste vom Mittagessen zu finden. Beide hängen wir für einige Augenblicke unseren Gedanken nach.
„Weißt du“, seufzt Julia plötzlich auf „Ich habe es gut jetzt!“ – Ich denke mir, dass sie damit auf ihre Schwangerschaft anspielt. Sie ist bereits über dreißig Jahre alt und dies wird ihr erstes Kind sein. Das ist sehr ungewöhnlich hier. Ich weiß, dass der Druck für die Frauen früh Kinder zu bekommen hoch ist. „Warum bist du erst jetzt schwanger?“, stelle ich die Frage, die mir unter den Nägeln brennt. Gespannt warte ich, ob sie mich wohl mit einem „Der Herr ist großzügig – Allah Karim“, einer hier typischen Antwort auf alles Mögliche, für meine Neugierde bestraft.
Stattdessen fängt sie an zu erzählen:
„Ich habe keinen Papa. Mein Vater starb, als ich noch ganz klein war und die Maama hat dann wieder geheiratet. Ich war die einzige ohne Papa. All meine jüngeren Geschwister sind von der gleichen Mama und dem gleichen Papa. Zum Glück hat sich Maama um mich gesorgt.“ Ich weiß, dass sich Julia unter ihren Geschwistern oft einsam fühlt. Sie sagt dann immer sie sei anders. Und ein bisschen stimmt das auch. Der Vater der Geschwister hat sich nie verantwortlich für sie gefühlt. Sie hat weniger Kleidung bekommen und auch Schulgeld war für sie keines mehr übrig. „Deshalb wurde ich auch verheiratet als ich dreizehn Jahre alt war.“ Ihr Blick war bisher nach draußen in die Ferne gerichtet. Jetzt sieht sie mich an „Nafisa – ich wusste gar nichts!“, sagt sie mit einem seltsamen Nachdruck in der Stimme – und ich verstehe was sie meint. „Mein Mann war reich, aber es war kein guter Mann. Er hat getrunken und geraucht und ich hatte Angst. Ich habe keine Kinder bekommen. Ich habe sechs ungeborene Kinder verloren. Mein Mann war nicht zufrieden mit mir.“ Sie geht nicht näher darauf ein, was das genau bedeutete. Wir schweigen eine Weile. Sie scheint einer schlechten Erinnerung nachzuhängen und ich weiß nicht genau, was ich erwidern soll. „Aber dann nach sechs Jahren, ist er gestorben – Gott sei alle Ehre! Und ich bin so schnell ich konnte zu meiner Maama nach Hause gekommen.“ Jetzt lächelt sie mich offen an. „Ich war froh!“, sagt sie. Mir zieht es das Herz zusammen. Ich frage mich, wie schrecklich diese Zeit wohl für ein junges Mädchen im Teenageralter gewesen sein muss, um einen scheinbar harten Ausruf wie diesen zu rechtfertigen. Ganz kurz schweifen meine Gedanken zu meiner eigenen Teenagerzeit zurück und ich werde von tiefer Dankbarkeit meinen Eltern, Geschwistern und Freunden gegenüber erfüllt. Dann erzählt Julia weiter: „Ich bin zehn Jahre bei meiner Mama geblieben. Das waren schöne Jahre!“, immer noch lächelt sie, „Und dann habe ich wieder geheiratet. Aber diesmal war es ganz anders. Diesmal wusste ich ja alles. Ich war ja schon groß. Das ist gut – zu heiraten wenn man groß ist.“ Ich kenne hier im Land bisher nur eine einzige Frau in meinem Alter, die nicht und noch nie verheiratet war. Meine Sprachlehrerin und die ist eine ausgesprochen außergewöhnlich gebildete Frau. Auch dass ich selbst unverheiratet bin, können die Leute hier fast nicht fassen. Zum wiederholten Mal frage ich mich, ob eine Frau wie Julia, wenn sie denn die Wahl hätte, nicht lieber unverheiratet bleiben würde. Aber dann gäbe es niemanden der im Alter für sie sorgt. Keine eigene Familie zu haben, ist für die Frauen hier einfach keine Option. „Ich habe noch zwei ungeborene Kinder verloren.“ Erzählt Julia weiter und nimmt mich wieder mit in ihre Welt. „Aber mein Mann ist gut. Er schlägt mich nicht.“ Ich muss die aufkommenden Tränen schlucken bei diesen Worten. Julia ist mir in den letzten Monaten hier unglaublich wertvoll geworden und wieder frage ich mich, welchen Kummer sie wohl ertragen musste in ihrer ersten Ehe. „Aber jetzt bin ich endlich schwanger – Gott sei alle Ehre! Mein Mann wünscht sich einen Jungen, aber ich hoffe es wird ein Mädchen! Weißt du Nafisa – ich habe es wirklich gut jetzt!“
Ihr könnt euch sicher vorstellen, dass dieses Gespräch mich noch lange bewegt hat. Ich weiß mittlerweile, dass Julias Schicksal kein Einzelfall ist und dass sie Recht hat, wenn sie sagt, dass es ihr gut geht! Ich schreibe euch nicht, um euch zu schockieren! Sondern um euch mit hineinzunehmen in das Leben dieser Frauen hier, das so unglaublich anders ist, von allem was ich bisher kannte. Ich wünsche mir so sehr, dass sie hören und glauben können wie wertvoll und geliebt sie sind – mit und ohne Kinder!
April 2022
„Ist es ein Problem mit dem Bauch, das meine Tochter hat?“ Fragt mich der Vater noch einmal auf Arabisch. Ich werde ungeduldig und verstehe einfach nicht, warum der er denn nicht im Krankenhaus bleiben will, damit seine Tochter die nötige Behandlung bekommen kann. Außerdem war ich schon wieder auf dem Weg in den OP – es gibt so viel Arbeit und eigentlich hat der Übersetzer, der mir zugeteilt ist, dem Mann doch schon zweimal gesagt, was er tun muss und welche Medikamente er kaufen soll. Ich wende mich also ein klein wenig genervt zu dem Herrn in Turban und Jalabia – der traditionellen Kleidung hier im Norden – und sehe den verzweifelten Ausdruck auf seinem Gesicht. Ich zögere. Es ist nicht seine Schuld, dass es hier so wenig Ärzte und so viele Patienten gibt. Und obwohl ihm gesagt wurde, was er tun soll, hat sich keiner wirklich die Zeit genommen ihm zu erklären warum eigentlich. Ich schaue mich nach meinem Übersetzer um, aber der ist schon wieder weiter. Zögerlich beginne ich zu erklären. Mein Arabisch ist schlecht, aber auch das Arabisch meines Gegenübers ist nicht viel besser. Er kommt von weiter weg und spricht eine der vielen Stammessprachen, die es hier gibt. Wir versuchen es also mit einfachen Worten und nehmen Hände und Füße zur Hilfe. Ich bekomme heraus, dass er schon einmal mit einer anderen Tochter hier gewesen war, die dann eine OP gebraucht hatte. Er hat nicht mehr viel Geld und falls seine Tochter nun wieder einen Eingriff benötigen würde, müsse er erst wieder nach Hause und dort die Familie um Geld bitten. Das ist eine drei-Tages-Reise für ihn und die Patientin. Ich beginne das Problem zu verstehen. Ich glaube nicht, dass seine Tochter eine OP benötigt und die Preise für Medikamente und den Aufenthalt im Krankenhaus sind nicht sehr hoch. Also kann ich ihn ein bisschen beruhigen. Langsam nickt er. „OK, dann bleiben wir hier!“ Ich bin sehr froh, dass er sich zu dieser Entscheidung durchringen konnte!
Ich arbeite jetzt seit drei Wochen im Krankenhaus. Es ist eines der besten Krankenhäuser hier im Land, aber das Problem ist, dass es einfach auch nur sehr sehr wenige Krankenhäuser gibt. Die Medizinische Versorgung ist wirklich schlecht. Und noch schlechter außerhalb der großen Städte. Es gibt keinerlei Krankenversicherung. Das heißt, die Patienten müssen alles selbst zahlen. Dies und ihr geringes Vertrauen in Ärzte und Schulmedizin sind mit Gründe dafür, warum sie oft so spät zu uns kommen. Und viel zu oft kommt es dann vor, dass wir mit den Mitteln, die uns hier zur Verfügung stehen, einfach nichts mehr für sie tun können. Nur in der kurzen Zeit hier, habe ich extrem viele Fälle gesehen, die in Deutschland auf diese Art und Weise nie auftauchen würden. Knochenbrüche von einem Unfall, der über 6 Jahre her ist. Tumoren, die schon unglaublich groß und aufgebrochen sind. Große Verbrennungen, die erst durch Naturheiler hervorgerufen wurden. Mehrere Jahre alte große Narben – oft auch nach Verbrennungen, die falsch behandelt wurden und dadurch zu starken Bewegungseinschränkungen führen; Winzige unterernährte Kinder.
Und was ist mein Platz in dem Allen? Um ehrlich zu sein, weiß ich das auch noch nicht so genau. Bisher jongliere ich mich durch die verschiedenen Sprachen, stolpere jeden Tag über Krankheitsbilder, die ich noch nie gesehen habe und lerne so viel Neues, dass Abends oft wenig Kraft und Konzentration bleibt, sich das alles nochmal in Ruhe durchzulesen. Dass wir hier gerade eigentlich immer oberhalb der 40°C Marke sind, hilft dabei um ehrlich zu sein auch nicht besonders. Ich war die letzten zwei Wochen oft im OP und habe viel beobachtet, weil natürlich hier ganz anders gearbeitet wird, als ich das gewohnt bin. Kleinere Eingriffe habe ich selbstständig durchgeführt, bei größeren assistiert. Ich habe viele Leute kennen gelernt und auch schon ein paar neue Freunde gefunden. Ich sehe mich Schwierigkeiten gegenüber gestellt, mit denen ich nie gerechnet hatte und bekomme auf der anderen Seite auch Hilfe aus Richtungen, die ich nicht erwartet habe. Wenn mich Freunde fragen, ob es gut ist im Krankenhaus, fällt mir das schwer zu beantworten. Vieles ist nicht gut. Manches ist sehr hart für mich und aller Anfang ist schwer. Aber dann bin ich auch froh darüber, endlich angefangen zu haben und zu arbeiten macht mir Freude. Vor Allem aber liebe ich unsere Patienten und wünsche mir wirklich von Herzen, dass ihnen geholfen wird und dass, was wir hier tun ihnen auch Zeugnis sein kann, dafür, wie sehr Gott sie liebt. Also ist es auch irgendwie doch gut!
Meine Sprachlehrerin sagt immer wieder: Wir Menschen können nur helfen und tun was in unserer Macht steht. Gott ist derjenige der heilt.
Darum bete ich! Um äußere und innere Heilung für die Menschen hier!
Juni 2022
Ich sitze bei mir zuhause auf einem Teppich. Es ist Freitagmorgens um kurz vor neun Uhr. Der Strom – und damit auch der Ventilator – ist gerade ausgegangen. Wir beklagen uns nicht – genau genommen sind wir sogar dankbar, weil wir selten so lange in den Morgen hinein Elektrizität haben. Meine Sprachlehrerin und ich greifen schon beinahe routiniert zu den beiden Fächern, die neben uns auf dem Boden liegen. Obwohl es noch recht früh am Vormittag ist, fangen wir schon an zu schwitzen. Ich fülle unsere Gläser neu mit kaltem Wasser. In ein paar Stunden wird es das nicht mehr geben, weil der Kühlschrank natürlich ebenfalls nicht mehr funktioniert. Also – genießen, solange es geht! Auch mit Tee, Kaffee, getrockneten Datteln und anderen süßen Leckereien sind wir gut versorgt. Wir unterhalten uns angeregt über das Thema Gerechtigkeit. Viele der Worte verstehe ich nicht und geduldig macht Tanja immer wieder Pausen, erklärt mir zum Beispiel das Wort Gesetz und ich nehme es in meinen Vokabelkatalog auf. Auf diese Art und Weise gestalten wir viele Stunden meines Sprachunterrichtes. Obwohl ich recht müde bin, weil ich am Vortag einen wirklich anstrengenden und langen Arbeitstag im Krankenhaus hatte, sind wir beide – Tanja und ich – tief ins Gespräch vertieft. Natürlich reden wir auch über die Unruhen und Demonstrationen in der Innenstadt, über den Zorn bezüglich der herrschenden Ungerechtigkeit, mitunter der Grund, warum Tanja heute bei mir ist und wir uns nicht wie gewohnt in der Schule treffen. Was ist ihre Einschätzung der Situation? Welche Ratschläge hat sie auch an mich, als Ausländerin? Tanja stimmt in ihrer Antwort mit dem überein, was wir schon aus anderen Quellen gehört haben: Die Innenstadt und Menschenaufläufe meiden. Ja und natürlich beten, dass es schnell besser wird. Wieder bin ich dankbar dafür, eine so kluge und freundliche Sprachlehrerin und Freundin zu haben.
Ich lerne gerade die Worte für Gericht, für Richter und für Anwalt, als mein Telefon klingelt. Es ist Claudia, eine deutsche Kollegin aus dem Krankenhaus.
„Entschuldige mich, Tanja, aber ich muss da geschwind dran gehen“
Sie nickt mir zu und ich hebe ab. Nur nach wenigen Augenblicken ist das Gespräch schon beendet und ich lege mein Telefon müde auf die Seite. Tanja sieht mir sofort an, dass etwas mein Herz belastet. Ich erzähle ihr von einer jungen Patientin – von Eva. Sie kämpft jetzt schon seit zwei Tagen um ihr Leben. „Es geht ihr schlechter, aber sie lebt noch.“, hatte Claudia eben am Telefon gesagt. Als ich Tanja von ihr erzähle steigen mir die Tränen in die Augen. Ich will Eva so gerne helfen, aber alle medizinischen Möglichkeiten sind ausgeschöpft. Mit allem was ich über Medizin gelernt habe, weiß ich, dass sie sterben wird.
„Solange sie noch lebt, können und werden wir beten! Gott kann ein Wunder tun!“
Um ehrlich zu sein, fällt es mir manchmal schwer das zu glauben. Dennoch bete ich. Ich bitte ihn über das hinaus zu handeln, was ich medizinisch für möglich halte. Ich kann die Tränen nicht mehr zurück halten.
Ich bemerke Tanjas Verwirrung. Warum ist mir ein Mensch so wichtig, den ich kaum kenne? Gott wird sowieso tun, was er für richtig hält! Für die Leute hier im Land ist der Tod etwas viel alltäglicheres als für mich. und ihr Glaube lehrt sie eine gewisse Schicksalsergebenheit. Das Gebet wirklich etwas bewirken kann – Gott etwas tut, weil wir beten – das ist ein fremder Gedanke für sie. Was wir aber beide wissen und verstehen ist, dass jeder Mensch sterben muss und dass keiner von uns die Zeit kennt.
Und plötzlich sind wir wieder Mitten im Gespräch. Wir reden nicht mehr über die ungerechten und korrupten Gerichte dieser Welt, sondern darüber, dass wir alle am Ende vor Gottes Gericht stehen werden. Sie erklärt mir, dass dann kein Mensch wissen kann, wie Gott – der gerechte Richter – über seine Taten urteilen wird, und dass man nur versuchen kann so gut wie möglich zu leben.
„Das glaube ich nicht.“, antworte ich ihr, „Ich glaube vor dem Gericht Gottes einen Anwalt in Jesus zu haben, der für mich einsteht. Und wenn auch im Leben nichts sicher ist, so habe ich doch diese eine Sicherheit im Tod. Dass ich weiß wo ich hingehe.
Die junge Eva verstarb zwei Tage später.
Mir ist so unglaublich bewusst, dass es Sicherheit im Leben nicht gibt! Weder was die stabile Lage eines ganzen Landes angeht, noch wenn es um ein einzelnes Menschenleben geht. Umso mehr glaube ich, dass es sich lohnt alles auf diese eine Karte zu setzen – auf unseren auferstandenen, lebenden und handelnden, rettenden und liebenden Herrn Jesus!
September 2022
Es ist Regenzeit! Ich persönlich mag die Regenzeit! Denn mit dem Regen kommen auch der Wind und die Kühle, vor allem in den Abendstunden. Ja – und das Land hier braucht den Regen. Wenn ich jetzt durch die Straßen laufe wundere ich mich manchmal. Alles ist grün! Überall wächst Gras, wo vor einigen Monaten der Boden noch sandig und wüst war. Fast kann ich es mir nicht mehr vorstellen, dass die Wiesen, Wälder, Seen – mit Seerosen – vor einigen Monaten noch reine Dürre waren.
Der Regen bringt aber leider auch manche neue Herausforderung. Und viele davon summen, krabbeln, brummen, stechen, nerven und lassen sich auch durch mein Moskitonetz nur schwer von einer nächtlichen Mahlzeit abhalten. Und so begibt man sich hier fast ausnahmslos zum Sonnuntergang – ca. um 18.00 Uhr – unter genau diesen Schutz. Viel zu tun gibt es dann nicht mehr, außer zu schlafen. Meine Tage sind also deutlich kürzer und die Abende ruhiger geworden durch meine blutsaugenden Mitbewohner.
Auch die Straßen tragen dazu bei, dass sich das Leben noch weiter entschleunigt, obwohl das kühlere Wetter zu Aktivität einlädt. Ich wohne ein bisschen außerhalb des Stadtkerns – in Guinebor. Hier sind die Straßen nicht geteert, sondern allein aus Sand bestehend. Zur Trockenzeit bedeutet das einen etwas holprigen Weg in die Stadt. Jetzt gibt es fast keinen Weg mehr. Nur noch tiefe Pfützen, Seen und Flüsse. Taxis fahren nicht mehr, und auch mit einem großen, besser geeigneten Wagen, beschränken sich die Fahrten nur auf das absolut notwendige, um das Auto nicht zu ruinieren. Zu Fuß brauchte ich vor allem am Anfang der Regenzeit lange, um einen einigermaßen begehbaren Weg von mir zuhause ins Krankenhaus zu finden. Zum Glück bin ich bisher nur einmal auf dem Heimweg ausgerutscht und von oben bis unten mit Schlamm verschmiert gewesen…
Eine weitere Familie, aus meinem Team, die ebenfalls hier draußen in Guinebor wohnt, ist zurzeit auf Besuch in Deutschland. Ich freue mich sehr für sie, aber dadurch ist es hier manchmal ein bisschen einsam geworden. Das hat nicht nur Nachteile. Da ich nicht gerne alleine bin, investiere ich mehr Zeit in meine Nachbarn und knüpfe immer tiefere Kontakte. Das ist schön! Ich merke immer mehr wie sehr ich vor allem die Frauen hier in mein Herz schließe.
Erst letzte Woche habe ich meine Freundin Bianca besucht, die ich schon ein paar Wochen nicht mehr gesehen hatte. Sie saß unter einem Baum vor ihrem Haus und sah mich schon von weitem. Ich steche hier immer deutlich aus der Menge heraus, trotz der einheimischen Kleidung, die ich trage. Sie sprang auf und kam mir durch den Matsch entgegengerannt. Laut rief sie meinen Namen. Alle anderen Leute auf der Straße haben das bemerkt und sich gewundert. Ich weiß, dass die Menschen hier über mich reden. Ich verstehe es sogar. Bianca erklärte den Beobachtern: „Das ist Nafisa, ich habe euch von ihr erzählt.“
Die Männer auf der Straße wundern sich. Die Meisten von ihnen haben wahrscheinlich noch nie eine weiße Frau gesehen, der ihre Kleidung trägt.
Das Verhalten von Bianca gehört sich hier nicht so recht für eine Frau. Aber mich hat es unglaublich berührt und ich fühle mich geliebt und angenommen. Das ist für mich ein großes Privileg!
Außer meinen Freunden gibt es hier natürlich auch noch meine Arbeit im Krankenhaus, in dem ich jetzt schon fast ein halbes Jahr tätig bin. Wenn ich ehrlich bin, erzähle ich nicht so gerne davon. Die Arbeit belastet mich manchmal sehr. Dies liegt weniger an den Patienten. Ich liebe diese Menschen dort, die kommen und manchmal schwierig sind, oft nicht tun was man ihnen empfiehlt, weil sie es nicht so recht verstehen oder auch, weil sie das Geld für die Behandlung nicht haben oder ausgeben wollen. Ich liebe es, zu versuchen ihnen die Notwendigkeit zu erklären ohne sie zu verurteilen. Ich sorge mich mit ihnen, bete für sie und freue mich, wenn es ihnen wieder besser geht. Ja – manche Fälle sind traurig. Oft reichen die Mittel nicht aus, um eine optimale Versorgung zu gewährleisten. Und viele Menschen hier sterben an Krankheiten, die man bei uns in Deutschland behandeln könnte.
Aber die Patienten sind trotzdem nicht der Grund, warum mir die Arbeit so schwer fällt. Es sind die äußeren Umstände und Strukturen. Es ist nicht so leicht, das in Worte zu fassen. Vieles davon hat mit unterschiedlichen Kulturen, mit Kommunikation und dem Verständnis von Hierarchie zu tun. Oft laufen Dinge unausgesprochen und ich verstehe sie einfach nicht. Ich versuche demütig zu sein und geduldig. Vieles muss ich einfach akzeptieren, obwohl ich anderer Meinung bin. Doch trotz meiner Mühen gelingt es mir bisher nicht meinen Platz und meine Aufgabe dort im Team zu finden. Bitte betet mit mir um Weisheit und um Geduld. Auch einfach manchmal um Aushaltevermögen. Und bitte betet, dass sich die Situation auf Dauer zum Besseren verändert.
Auch wenn das Leben viele Herausforderungen mit sich bringt, bin ich super dankbar dafür hier sein zu dürfen! Ich fühle eine echte Liebe für die Menschen vor Ort in meinem Herzen. Ich danke Euch, dass ihr Euch ein bisschen von mir mit hinein nehmen lasst und wünsche mir, dass Ihr dieses Privileg durch meine Berichte ein bisschen mit mir teilen könnt.
November 2022
Bitte lacht mich nicht aus, wenn ich schon wieder über das Wetter schreibe, aber das ist hier – wie wahrscheinlich auch an vielen anderen Orten auf der Welt, doch so ein wichtiger Bestandteil meines Alltags. Es ist richtig schön geworden – ja! Meine Lieblingszeit des Jahres hat angefangen. Und das kann ich euch so schreiben, weil ich letztes Jahr um diese Zeit auch schon im Land war. Vor mir liegt die trockene, kalte Zeit. Das bedeutet, dass das ganze Wasser, von dem ich euch in meinem letzten Update geschrieben habe, jetzt getrocknet ist. Statt Matsch haben wir jetzt nur noch Sand und Staub. Bald werden auch die Sandstürme anfangen. In einen Sandsturm zu geraten – das kann ich euch aus Erfahrung schreiben – ist natürlich nicht soooo angenehm. Dennoch kann ich es genießen dieses gewaltige Wetterphänomen, das wir doch aus Deutschland kaum kennen, zu bewundern. Das Beste ist aber, dass jetzt die Nächte kühler werden und ich es liebe mich in den frühen Morgenstunden endlich wieder in eine Decke einzuwickeln. Tagsüber scheint die Sonne und es ist warm (um die 35°C), aber da es eine trockene Hitze ist, lässt es sich gut ertragen. Ihr seht, meine Adventszeit wird sehr anders verlaufen als die Eure und ist geprägt von ganz anderen Eindrücken. Dennoch bin ich froh, wohlgemut und voller Tatendrang. Dankbar nehme ich das als ein Geschenk aus der liebenden Hand unseres Vaters.
Auch im Krankenhaus finde ich immer mehr eine Routine. In meinem letzten Update habe ich euch geschrieben, dass mir vieles noch sehr schwer fällt. Natürlich ändert sich so etwas nicht über Nacht, aber ich habe in den letzten Wochen doch das Gefühl, ein bisschen mehr meine Rolle zu finden. Einen Platz den ich einnehmen soll und auch einnehmen kann. So hat es sich ergeben, dass ich oft vormittags im OP arbeite und meist kleinere Fälle selbstständig operiere. Mittags bin ich dann „draußen“, also auf Station und im Sprechstundenbereich. Hier kann mich das Pflegepersonal, das alle Patienten zuerst anschaut, dazu rufen, wenn sie jemanden haben, zu dem sie meine Meinung und Beratung wollen. Das gestaltet sich oft auf viele Art und Weise spannend und herausfordernd.
Laura – eine Pflegerin, ruft mich zu einer Patientin. Ich betrete den kleinen Raum, der Ventilator an der Decke läuft brummend ohne viel Wind zu verbreiten. Durch das geöffnete Fenster hört man die vielen wartenden Patienten miteinander reden und klagen. Ein junges Mädchen liegt auf dem alten Untersuchungstisch. Der abwischbare Bezug ist eingerissen und an mehreren Stellen quillt der Schaumstoff heraus. Ein paar Fliegen summen aufgeregt um sie herum. Auf ihrer Krankenakte steht kein Alter – die meisten Leute hier wissen nicht wann sie geboren wurden. Ich schätze es auf 13 Jahre. Ihr Vater, ihre Mutter – zumindest nehme ich an, dass sie das sind – und noch vier weitere Angehöre stehen um sie herum. Sie reden eine Sprache miteinander, die ich nicht verstehe. Ich tippe es ist Goran, eine Stammessprache aus dem Norden, die hier die meisten unserer Patienten sprechen. Alle reden durcheinander. Laura versucht mir auf Französisch zu erklären, was das Problem ist. Der Vater redet auf Arabisch auf sie ein – er geht davon aus, dass ich ihn nicht verstehe. Die Geräusche im Hintergrund machen das auch sehr schwer. Ich versuche das alles zu ignorieren, nehme das dicke Carnet – die Krankenakte, die jeder Patient immer selbstständig mitbringen muss, in die Hand, schlage sie auf und tue so als ob ich lesen könnte, was all die anderen Ärzte vor mir handschriftlich und auf Französisch da hinein gekrakelt haben. Ich gehe auf das junge Mädchen zu, ihre Mutter stützt sie von Hinten, so dass sie etwas aufrecht liegt. Ich strecke ihr die Hand hin, grüße sie auf Arabisch und auf die Art und Weise, wie man das hier im Land macht, stelle mich vor und versuche mich einen Augenblick lang nur auf sie zu konzentrieren. Es wird etwas ruhiger im Raum. Der Mann – es stellt sich heraus, dass er tatsächlich der Vater ist, erklärt mir nun direkt das Problem seiner Tochter. Laura hält sich im Hintergrund. Oft verstehe ich recht gut, was die Leute mir erzählen. Nur wenn ich etwas frage, bekomme ich meist eine ganz andere Antwort – und von einer ganz anderen Person, als das, was ich wissen wollte. Es ist ihnen oft nicht klar worauf ich mit meiner Frage hinaus will. Dabei hilft Laura mir und langsam wird die ganze Geschichte deutlicher: Das junge Mädchen hat schon seit einigen Jahren immer wieder Schmerzen in den Gelenken. Jetzt wird es schlimmer. Sie waren schon in anderen Krankenhäusern und bei Wunderheilern, aber niemand konnte helfen. Mittlerweile ist es so schlimm, dass sie nicht mehr laufen kann. Jetzt seien sie aus ihrem Dorf von weit weg hier her gekommen, weil Verwandte aus der Stadt dieses Krankenhaus empfohlen hätten. Ich schaue sie mir an. Sie sagt kein Wort. Sie selbst kann mir nichts erzählen. Sie spricht nur ihre Stammessprache. Dunklen Augen, die tief in den Höhlen liegen, blicken mich scheu an. Sie ist dünn – eher mager. Durch die weiten losen Kleider und die langen Tücher, in die das Mädchen gehüllt ist, wird dieser Eindruck noch verstärkt. Immer wieder unterbricht ihre Mutter meine Untersuchung, indem sie meine Hand ergreift. Es ist gar nicht so leicht sie davon zu überzeugen, dass ich wirklich will, dass ihre Tochter mir die linke Hand (hier die Hand der Schande) gibt, um sie zu drücken, damit ich weiß ob sie Kraft in der Hand hat. Ihr Vater erklärt, dass sie ein fröhliches, lebendiges Kind gewesen sei. Davon ist nicht mehr viel übrig.
Ich habe keine Ahnung, was dieses Mädchen hat! Ich bin Chirurgin und das ist mit Sicherheit kein chirurgisches Problem. Um ehrlich zu sein, haben die meisten Patienten, die ich mir anschaue, keine chirurgischen Probleme. Aber es gibt hier schlichtweg nicht so viele Fachärzte. Ich bitte die Familie um einen Moment Geduld und ziehe mich zurück. Ich fühle den Druck und die Erwartung, die auf mir lastet. „Verwandte haben das Krankenhaus empfohlen“, „Alle anderen Ärzte konnten nicht helfen“. Was soll ich dann machen? Das ist nicht mein Gebiet. Ich schlage in einem Fachbuch nach, aber wonach soll ich überhaupt suchen? Ich rufe Tom an – einen Allgemeinmediziner, der wirklich viel Ahnung und Erfahrung hat. Unter der Annahme, dass es sich um eine rheumatoide Erkrankung handelt, verschreibe ich Kortison und bitte die Familie in zwei Wochen wieder zu kommen.
Ich rede mit dem Vater. Erkläre, dass ich nicht sicher bin, ob die Tabletten wirken. Dann frage ich ihn, ob ich für die Familie und das junge Mädchen beten darf, weil Gott der einzige ist, der wirklich helfen kann. Dankbar nehmen sie an.
Als ich dem Vater nachschaue, wie er seine Tochter auf dem Arm aus dem kleinen Raum herausträgt, mit der ganzen Familie, die folgt und im Hinausgehen immer wieder murmelt „Allah jantia ave“ – „Gott mache sie gesund“ zieht sich mir das Herz zusammen. Sie haben sich zusammengetan, wahrscheinlich auch ihr Geld zusammengelegt, sich auf einen weiten Weg hierher gemacht in der Hoffnung für Hilfe für dieses junge Mädchen. Das berührt mich sehr. Und während ich mich selbst ein wenig nutz- und hilflos fühle, hoffe ich, dass Gott mein Gebet für sie hört.
Oft sehe ich hier Patienten und Fälle, bei denen ich nicht weiß, was ich machen soll. Oft kommen die Frauen zu mir, weil es hier keine Frauenärzte gibt und ich die einzige weibliche Ärztin bin. Nur macht mich das leider nicht automatisch zur Gynäkologin. Ich lerne hier jeden Tag viel dazu, berate mich mit Freunden – auch aus Deutschland und mache was ich kann, so gut wie ich es kann. Letztlich ist mir aber bewusst, dass das schrecklich wenig ist. Ich wünsche den Menschen so viel mehr und so viel bessere Hilfe. Ich brauche es zu wissen, dass Gott der beste und fähigste Helfer und Heiler ist. Und dass er die Verantwortung für mich und all meine Patienten trägt.
Die Familie kam zwei Wochen später zur Kontrolle und Dosisanpassung der Medikamente wieder. Das Mädchen lief auf den Arm ihres Vaters gestützt in das kleine Zimmer hinein. Für mich waren ihre glücklichen Gesichter das größte Wunder!
Februar 2023
Eine Frau sitzt bei mir in der Sprechstunde. Sie trägt ein schwarzes weites Kleid, Handschuhe und Socken, schwarzes Kopftuch und einen schwarzen Schleier, der alles bis auf ihre Augen verbirgt. Aufgrund dieser Kleidung gehe ich davon aus, dass sie zum Stamm der Goran gehört. Mein kleiner Untersuchungsraum ist nur durch eine dünne Trennwand und einen Vorhang von drei weiteren Kabinen getrennt. Der gesamte Raum ist überfüllt. Aus allen Richtungen hört man das Murmeln der Wartenden, die oft schon seit vielen Stunden da sind. Manche beschweren sich auch lautstark. Ein Kollege von mir versucht auf der anderen Seite des Zimmers einen Streit zu schlichten. Es riecht nach Schweiß, unsauberen Wunden und Desinfektionsmittel. Als Schreibtisch dient mir ein an der Wand befestigtes Brett. Einen Computer gibt es nicht. Alles wird von Hand dokumentiert. Meine Patientin ist mit ihrer Schwester da – ein ebenfalls nur in Schwarz gehüllter Schatten. Sie übernimmt das Reden. Ich habe bis jetzt noch nicht verstanden, warum das oft so ist – dass meine Patienten sich nicht selbst erklären, sondern gerne jemanden dabei haben, der das für sie übernimmt. Nach einigem Nachfragen finde ich heraus, dass es nicht an der Sprachbarriere liegt und dass die Patientin, genau wie ihre Schwester, sehr gut Arabisch spricht. Ich versuche mich nun ohne den Umweg über ihre Schwester direkt an sie zu richten. Sie klagt über Bauchschmerzen. Die habe sie schon immer und die ganze Zeit außerdem tut ihr auch sonst eigentlich alles weh. Das klingt nach einem seltsamen Symptom in meinen Ohren und macht mich ein wenig misstrauisch. Da ich aber mittlerweile gelernt habe, dass mir die Menschen hier oft nicht sofort sagen, was das eigentliche Problem ist, stelle ich gleich zu Anfang die entscheidende Frage: „Hast du Kinder?“ Nein, Kinder habe sie keine. Ihr Alter weiß sie nicht ganz genau, aber sicher noch keine 30. Seit ungefähr 10 Jahren verheiratet. Ihr Mann hat mittlerweile eine zweite Frau, die schon einige Kinder hat.
Im Tschad sind fast 50% der Menschen die hier leben unter 15 Jahre. Kurz gesagt: Es gibt hier wahnsinnig viele Kinder! Nicht wenige meiner Freundinnen haben mehr als 10 lebende Töchter und Söhne. Diese sind hier die Alters und Lebensversicherung für die Frauen. Ohne Kinder haben sie keine Zukunft. Sie werden von Familie und Gesellschaft ausgesondert. Sie gehören nicht mehr dazu. Für eine Kultur, in der die Gesellschaft so viel wichtiger ist, als der Einzelne, ist dies mit das Schlimmste, was einem passieren kann. Fast immer nimmt sich der Mann dann eine zweite Frau oder lässt sich scheiden. Damit ist die Kinderlose ungeliebt, ohne Stellung und ohne Versorgung. Eine Last für den Rest ihrer Familie. Sie ist wertlos.
Ich untersuche meine Patientin so gut, wie ich es kann. Seit Claudia, eine deutsche Frauenärztin und gute Freundin von mir, vor einigen Wochen nach Deutschland zurückgegangen ist, begegnen mir sehr viele solcher Fälle. Mir fehlen eigentlich die Erfahrung und das nötige Fachwissen. Was ich kann, habe ich im letzten halben Jahr hauptsächlich von Claudia gelernt und mir aus Büchern angelesen. Dazu kommt, dass die Mittel, die wir zur Behandlung zur Verfügung haben, sehr beschränkt sind. Ich habe wenig Hoffnung, der Frau vor mir diesen Wunsch erfüllen zu können, mit dem sie in Wahrheit zu mir kommt: Kinder. Ich möchte so gerne Kinder haben.
Ich erzähle meiner Patientin, dass es nicht Kinder oder gesellschaftliche Stellung sind, die uns wertvoll machen. Dass jeder Mensch, egal ob Mann, Frau, alt oder jung, gesund oder krank, den gleichen Wert hat. Ich bete darum, dass Gott sie tröstet und ihren Kummer wegnimmt. Nächste Woche wird sie wieder kommen. Vielleicht ergeben meine Untersuchungen ja doch etwas, das ich behandeln kann. Ich wünsche mir sehr, dass sie schwanger werden darf, auch wenn mir klar ist, dass dies nicht alle ihre Probleme lösen wird. Noch mehr wünsche ich mir, dass Gott ihr Herz wirklich froh macht. Weder das eine noch das andere ist unmöglich für IHN.
Insgesamt ist der Druck im Krankenhaus für mich in den letzten Wochen nochmal ganz schön angestiegen. Außer Claudia werden auch noch einige weitere meiner Kollegen im nächsten halben Jahr diese Arbeit verlassen. Um ehrlich zu sein, mache ich mir schon manchmal ein bisschen Sorgen, wie es weitergehen soll. Sehr brauche ich Kraft und Weisheit für mich, aber auch für meine Vorgesetzten. Und Einheit in dem Teil des Teams, das weiterhin zusammen in Guinebor im Krankenhaus arbeiten wird.
Unabhängig von meiner Arbeit im Krankenhaus geht es mir sehr gut! Ich hatte Anfang des Jahres Besuch aus Deutschland. Eine liebe Freundin – Esther – war da. Und nicht nur die verspäteten Weihnachtsgeschenke und die vielen Grüße aus der Heimat waren ein unglaublich großer Segen für mich. So schön war es, jemanden mit in meinen Alltag hineinzunehmen, der mich schon so lange kennt. Und zu erleben, wie sie versteht, was mir hier manchmal so schwer fällt, und warum ich den Tschad mit seinen wunderbaren Menschen gleichzeitig so sehr liebe. Danke euch, dass ihr euch immer wieder von mir mithineinnehmen lasst. Dass ihr euch immer wieder mit mir freut und immer wieder mit mir traurig seid. Dass ihr immer wieder hinter mir steht und mich ermutigt.
Mai 2023
Sabur - Geduld.
Das ist eine der arabischen Vokabeln, die ich hier früh gelernt habe, viel höre und benutze, und ich muss immer wieder lernen, gut damit umzugehen.
Hier zwei Beispiele aus meinem Alltag, um euch mit hineinzunehmen, was ich damit meine:
Es ist Freitagmittag. Und es ist heiß! Sehr, sehr heiß. Schon seit Tagen hat es fast immer über 45 Grad tagsüber und nachts kommt es selten unter 30. Wir haben keinen Strom, so dass auch kein Ventilator irgendeine Linderung bringen kann. Ich bin am Wäschewaschen. Natürlich von Hand. Das Wasser ist ebenfalls warm und verspricht nur wenig Abkühlung. Waschen ist harte Arbeit. Auch ohne mich zu bewegen, schwitze ich die ganze Zeit. Durch die Anstrengung mit der Wäsche wird es noch schlimmer. Fliegen, denen es ebenfalls zu warm und zu trocken ist, schwirren um meine Arme und um mein Gesicht. Auch sie suchen Wasser und bringen meine sowieso schon angespannten Nerven damit beinahe zum Zerreisen. Schnell sind meine Kraft und meine Leidensbereitschaft aufgebraucht. "Nur ein paar Teile noch - damit ich die nächsten Tage etwas zum Anziehen habe." Nach etwa einer Stunde bin ich fertig. Mit Waschen, aber auch sonst so. Total am Ende setze ich mich neben meine Vermieterin und gute Freundin Gabi in den Schatten auf die Terrasse. Wir teilen uns einen Hof und sie saß da schon die ganze Zeit, die Augen halb geschlossen, ohne sich zu rühren. Auch ohne mich zu bewegen, ist es mir immer noch viel zu warm. Die Pause bringt nur wenig Entlastung. Und das wird für die nächsten Wochen wahrscheinlich auch erstmal so bleiben. Schlecht gelaunt jammere ich: "Ich mag die heiße Zeit nicht!"
Gabi stimmt mir zu - keiner mag die heiße Zeit. Doch dann ermahnt sich mich liebevoll: "Sabur bes" - Nur Geduld.
Was sie damit meint: Nur Geduld - wir können es nicht ändern. Jammern bringt nichts. Wir müssen es ertragen. Am besten ertragen wir es mit so viel Würde wie möglich. Irgendwie bewundere ich sie für diese Einstellung!
Ich bin eben in den Kreißsaal gerufen worden. Es geht um eine schwangere Frau, die schon seit einiger Zeit Wehen hat und jetzt ganz schön blutet. Aus medizinischer Sicht ist es eigentlich eine ganz einfache Entscheidung: Um das Kind und die Mutter zu retten, müssen wir einen Kaiserschnitt machen - und zwar schnell. Als ich in die Kabine der Schwangeren komme, erschrecke ich ein bisschen aufgrund des Bildes, das sich mir bietet. Sie liegt auf einer Liege und gibt keinen Laut von sich. Es ist für die Frauen hier Schande und ein Zeichen der Schwäche, wenn sie unter der Geburt klagen. Nur dass sie sich unruhig hin und her wälzt, zeigt, welche Schmerzen sie hat. Unter ihrer Liege steht ein Kübel mit Blut und auch sonst ist der Boden ganz schön verschmiert. Der kleine Raum ist angefüllt mit Leuten - Frauen in Lafais, dem traditionellen großen Kopftuch, und mehrere Hebammen in der rosa Krankenhaus-Uniform. Es wird wild und lautstark diskutiert. Die blutende Schwangere bekommt wenig Beachtung. Ich will wissen, was los ist und warum wir noch nicht im OP sind. Ich will schnell mit dem Kaiserschnitt anfangen. Es ist ein Notfall! Warum scheint keiner die Dringlichkeit zu verstehen? Dann finde ich heraus, was das Problem ist, und bin schockiert und wütend.
Im Tschad dürfen Frauen nicht selbst für eine OP oder irgendein anderes offizielles Dokument unterschreiben. Es braucht immer einen männlichen Verwandten, der das für sie übernimmt. In diesem Fall ist der Ehemann weit weg in seinem Dorf und es würde mehrere Tage brauchen, bis er da ist. Und der Vater - den habe ich wenige Minuten später am Telefon: Eine Operation? Das kennt er nicht, das will er nicht. Kommen kann er auch nicht. "Sabur bes, nur Geduld", sagt er.
So oft höre ich das. Sabur bes. Und in einem Fall wie diesem heißt es wohl eher: "Ich bin unwillig, etwas zu tun oder mich mit der gegebenen Situation auseinanderzusetzen, geschweige denn Verantwortung dafür zu übernehmen. Deswegen warte ich schicksalsergeben ab und ertrage es. Und das alles verberge ich hinter einer vorgeschobenen Frömmigkeit, indem ich sage, Gott werde es schon richten."
Ich bin so zornig und fühle mich gleichzeitig so hilflos.
Ich rede noch einmal mit der Patientin und der Mutter. Sie wollen die Operation. Der Patientin geht es langsam immer schlechter. Sie hat Angst. Schließlich - aus meiner Sicht nach viel zu langer Zeit - findet sich ein Bruder, der kommt und bereit ist, für die den Eingriff zu unterschreiben. Wir hatten in der Zwischenzeit schon alles vorbereitet. So schnell wir können fahren wir in den OP. Überglücklich kann ich nur eine halbe Stunde später der Mutter zu ihrem gesunden kleinen Mädchen gratulieren.
Allen geht es gut! Und ich bin Gott soooo dankbar dafür!
Sabur - Geduld. Manchmal müssen wir Dinge einfach aushalten und sie aus Gottes Hand annehmen. Und manchmal ist es ganz dringend notwendig, dass wir genau das nicht tun, uns nicht einfach abfinden, sondern ändern, was in unseren Möglichkeiten steht, mit den Mitteln, die Gott uns dafür zur Verfügung stellt. Gar nicht so einfach, immer den Unterschied zu erkennen…
September 23
Nach einem aufbauenden, bereichernden, Kraft gebenden, entspannenden und traumhaft schönen Heimataufenthalt, bin ich jetzt seit kurzem wieder im Tschad angekommen. Das hört sich so an als wäre es hier nicht schön. Es ist anders. Staubiger, weniger Strom, wärmer und manches ist unbequemer. Und dann ist es doch auch wieder gleich. Aber lasst mich euch mit rein nehmen in ein paar herausragende Erlebnisse, die ich in der letzten Zeit hatte und die vielleicht ein ganz kleines bisschen zeigen, was ich „anders und doch gleich“ meine.
„Uuuuuuuuuuuooooaaaaaa Carmen!“ So wurde ich mit einer La-Ola-Welle von meiner Familie – mit einem Haufen Nichten und Neffen, die ich bis dato teilweise noch gar nie gesehen hatte, vom Flughafen in Stuttgart abgeholt. Das war wirklich rührend. Und ich musste ganz schön gegen die Tränen ankämpfen, vor lauter Freude, wieder Zuhause zu sein.
Und ich habe es soooooo genossen, Zeit mit meinen Schwestern und meinen Freunden zu verbringen. Ich habe neue Mitglieder der erweiterten Familie kennengelernt, gespielt, viel Ausgelassenheit gelebt, tiefe Gespräche geführt und neu Beziehung gepflegt und geknüpft, die doch in den letzten Jahren etwas kurz gekommen sind. Unglaublich ermutigend war es auch für mich, neu zu erleben, wie ihr alle hinter mir steht und hinter dem was ich hier im Tschad tue, auch wenn ganz sicher das meiste davon nicht reibungslos läuft.
Viele von euch haben mitbekommen, dass es ein paar sehr grundlegende Umstände hier im Tschad gibt, die mich in meinem Alltag oft an meine Grenzen bringen. Mein Aufenthalt in Deutschland hat mir auf jeden Fall auch dabei geholfen, einiges etwas klarer einschätzen zu können. Ich konnte in Ruhe darüber nachdenken, was sich denn ändern müsste, damit ich weiterhin fröhlich im Tschad bleiben und Gott da dienen kann, wo ich glaube, dass er mich hin berufen hat. Noch ist noch nicht klar, was das konkret bedeuten wird. Aber es ist ein spannender Prozess für mich und ich bin euch so dankbar, für so viele gute Gedanken, für so viel Ermutigung und für so viel Mitbeten und Mittragen.
Mittlerweile bin ich wieder gut zurück in meiner Wahlheimat angekommen. Meine einheimischen Freunde im Tschad haben mich nicht vom Flughafen abgeholt. Das liegt aber auch daran, dass kein einziger meiner Bekannten ein Auto hat. Stattdessen haben sie aber meine Wohnung mit lauter Luftballons mit Aufschriften wie „Bienvenue“ und „Happy Birthday“ verziert. Eva, die älteste Tochter (19 Jahre alt), kam mir entgegengerannt, um mich zu umarmen. „Wir haben dich vermisst Nafisa! Wir haben uns an dich gewöhnt. Wenn du nicht da bist, dann fehlt einfach was!“ Auch das war ganz schön rührend. Auch hier wurden meine Augen ein bisschen feucht. Auch hier habe ich mich gefreut wieder Zuhause zu sein.
Quizfrage für interessierte Rätselnde:
Was ist die Aufgabe des Angestellten, der an einem Geldautomaten den Abhebungsprozess begleitet. Zusätzlich zu einem weiteren Angestellten, der für die Sicherheit zuständig ist.
Auflösung folgt.
November 23
Ich bin bei meiner Nachbarin Sarah zu Besuch. Wir sitzen draußen im Schatten unter einer aufgehängten Strohmatte auf einem Teppich. Obwohl wir schon Ende November haben, ist es noch ziemlich heiß. Heiß und staubig. Aber ich bin dankbar. Das ist besser als heiß und schwül. Um uns herum liegen ein paar Kissen, auf die man sich abstützen kann. Eine Schüssel mit Wasser und ein paar Datteln. Ich habe Sarahs mittlerweile zwei Monate altes kleines Mädchen auf dem Schoß. Immer wieder meint Sarah lachend: “Sie sieht dir ähnlich Nafisa. Sie könnte deine Tochter sein.” Es ist ein Scherz, den sie gerne macht - ich glaube, weil sie es erstaunlich findet, wie sehr ich mich in ein Kind investiere, das nicht mit mir verwandt ist. Die Kleine ist bei uns im Krankenhaus geboren. Sarah hatte Malaria und das hat zu einer Frühgeburt geführt. Am Anfang sah es nicht so aus, als würde ihr Mädchen überleben.
Hier im Tschad ist es Brauch, dass man den Kindern erst nach 10 Tagen einen Namen gibt. Der Grund dafür ist, dass so viele Kinder in den ersten Tagen sterben. Oft versuchen auch die Mütter ihr Kind emotional nicht so nah an sich heran zu lassen, um sich vor dem Schmerz zu schützen es zu verlieren. Auch wenn ich das irgendwie verstehen kann, ist das natürlich ganz schlecht für die Babys, die oft in Decken gewickelt einfach nur alleine irgendwo liegen. Als ihr kleines Mädchen geboren ist, hatte ich oft nach ihr und Sarah geschaut, erst im Krankenhaus und später auch Zuhause. Ich hatte sie ermutigt zu stillen, ihrem Kind Nähe zu schenken und dann auch das Kind einfach geliebt. Und Gott hat geschenkt, dass sie überlebt hat. Die kleine Maria. Jetzt liegt sie bei mir auf dem Schoß, ihr Kleidchen immer noch viel zu groß - und muss sich meine Grimassen ansehen, die ich mache, um eine Reaktion von ihr zu bekommen. “Sie wird gleich pinkeln” sagt ihre Mutter, nimmt mir Maria ab und wickelt sie in ein altes Tuch. Windeln sind viel zu teuer.
Eine weitere Nachbarin kommt mit ihren beiden kleinen Söhnen und bringt Hirnsuppe vom Schaf. Ich versuche mich höflich rauszureden, komme aber am Ende nicht drumrum mitzuessen. Eine dritte Nachbarin kommt dazu. Ich esse langsam, wir lachen viel, doch die drei reden schnell. Irgendwann komme ich nicht mehr mit und beschäftige mich wieder mit den Kindern. Das ist oft so, wenn ich in einer Gruppe bin. Dazu ist mein arabisch einfach noch nicht gut genug. Sarah merkt es “Nafisa - du bist ganz still geworden”, und an die anderen gewandt: “ich glaube nicht, dass sie uns verstanden hat.” Ich rolle verzweifelt mit den Augen und alle anderen lachen wieder. Doch dann erklären sie es nochmal langsam für mich.
Gabi, eine der dreien, kommt gerade von der Apotheke. Sie ist krank. Bauchschmerzen sagen sie und meinen damit Übelkeit und Erbrechen, manchmal auch Durchfall. Weil es keine Hausärzte gibt, geht man für sowas in die Apotheke, lässt sich beraten, kann oft auch die eine oder andere Untersuchung machen. Gabis Carnet - eine Art kleiner Gesundheitsakte, die jeder Patient bei sich hat - liegt auf dem Boden zwischen uns. Keine der Frauen kann lesen. Ein Zettel schaut raus. Es ist ein positiver Schwangerschaftstest. “Gabi, du bist nicht krank, du bist schwanger” sage ich laut, was mir durch den Kopf geht. Alle drei Frauen schweigen betroffen und schauen mich vorwurfsvoll an. Ich verstehe die Welt nicht. “Nafisa, das sagt man nicht!", es ist wieder Sarah, die es mir erklären muss. Natürlich wussten alle drei Frauen Bescheid. Nur verstehe ich immer noch nicht, warum man nicht darüber reden darf.
“Aber das ist doch schön, oder?” Frage ich ein bisschen unsicher. “Ja schon”, antwortet jetzt Gabi, “aber ich will nicht, dass Gott zornig wird.” Nach einigen weiteren umständlichen Erklärungen begreife ich langsam: Gabi hat vor acht Monaten ihren jüngsten Sohn verloren. Er starb an Malaria und Mangelernährung. Er war knapp ein Jahr alt gewesen. Nun hatte sie im letzten halben Jahr eine Fehlgeburt gehabt. Jetzt ist sie wieder schwanger. Sie glaubt, dass Gott sie für etwas bestraft. Warum sonst passieren ihr so schreckliche Sachen? Wenn man so tut, als wäre man nicht schwanger, dann merkt Gott es vielleicht auch nicht? Ich bin traurig und betroffen. “So ist Gott nicht!”, rufe ich impulsiv aus, “Er liebt uns noch so viel mehr, als ihr eure Kinder jemals lieben könntet!” die Frauen nicken langsam. Ob sie es glauben können weiß ich nicht. Zum Glück ist Gabi nicht sauer mit mir, dass ich Gott verraten habe, dass sie schwanger ist. Am selben Abend kommt sie noch zu mir nach Hause und bringt alle ihre Medikamente mit, damit ich ihr sage, was sie in der Schwangerschaft einnehmen kann und was besser nicht. Danach sitzen wir noch lange bei mir auf der Terrasse, reden über dies und das und haben Gemeinschaft miteinander.
Kinder sind das Thema der Frauen in meiner Nachbarschaft. Manchmal kommen die Frauen mit den Kranken zu mir und wollen meinen Rat. Manchmal beten wir zusammen. Manchmal kann ich auch ganz praktisch helfen. Und manchmal – manchmal ist es dafür zu spät und ich kann nur noch mitweinen.
Mai 24
Ich bin unmotiviert und müde. Es ist schon Nachmittag und es warten immer noch viel zu viele Patienten darauf, dass ich sie heute noch in meiner Sprechstunde anschaue. Obwohl der Ventilator über meinem Kopf mit aller Kraft vor sich hin brummt, ist die Hitze kaum auszuhalten.
Die Patientin vor mir ist mit ihrem Sohn und ihrer Tochter da. Sie kommen wegen einer Zweitmeinung zu mir und waren vorher schon im französischen Krankenhaus - wahrscheinlich dem besten der Stadt - von dem sie auch einen ganzen Haufen Befunde mitgebracht haben. Innerlich denke ich, dass es Zeitverschwendung ist – für mich und diese Frau - dass sie heute zu mir gekommen ist. Dennoch schaue ich natürlich erst den ganzen Stapel an Dokumenten durch und dann auch die Patientin selbst an. Sie hat ganz ohne Zweifel Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium, der auch schon in andere Organe gestreut hat. Das zeigen die vielen, teils doppelt durchgeführten Untersuchungen eindeutig.
Mein Herz zieht sich zusammen. Doch diesmal nicht aus Selbstmitleid, sondern weil ich glaube zu wissen, warum diese Menschen zu mir gekommen sind, obwohl, nein, gerade weil die Diagnose so eindeutig und ohne Hoffnung auf Heilung durch ärztliche Hilfe ist.
Im Tschad ist es Brauch, dass Ärzte ihren Patienten die Diagnose nicht mitteilen, falls es sich dabei um eine Krankheit handelt, bei der man nichts mehr machen kann. Als Grund wird genannt, dass der Patient dann wohl Angst bekäme und das ja nicht die Lebensqualität verbessere - es dem Patienten also schlechter gehe. Die Aufgabe eines Arztes sei es aber, dafür zu sorgen, dass es dem Patienten besser geht. Daraus resultiert jedoch häufig das Problem, dass die Patienten von einem Arzt zum nächsten geschickt werden, mit teuren Untersuchungen und noch teureren Medikamenten, die hier im Tschad immer die Familie selbst bezahlen muss - weil keiner sagen will: Da kann man nichts mehr machen.
Ich habe mich von Anfang an dafür entschieden, mich nicht diesem Brauch anzuschließen und meinen Patienten die Wahrheit zu sagen. Auch wenn das im Tschad sogar ein Grund sein kann, seine Arbeitserlaubnis zu verlieren (was mir bisher offensichtlich nicht passiert ist).
„Hat man euch erklärt, um was es sich bei der Krankheit handelt?”, wende ich mich wieder der kleinen Versammlung in meinem Sprechzimmer zu. Die Mutter schweigt, die Tochter schaut mich nur mit großen Augen an und der Sohn verneint meine Frage. Es ist so, wie ich mir gedacht hatte. Bedacht erkläre ich, was Krebs ist, dass er bei der Mutter schon weit fortgeschritten ist, und dass es nichts gibt, was ich dagegen noch tun kann. Die Mutter schweigt, die Tochter dreht sich weg, damit sie niemandem Schande macht durch ihre Tränen, und der Sohn fragt mich mit gebrochener Stimme, was sie dann tun sollen. Ich gebe ihnen Medikamente gegen die Schmerzen und bete für sie. Damit schicke ich sie nach Hause. Ich fühle mich schlecht und leer. So gerne hätte ich mehr getan.
Ich sehe sehr viele solcher Fälle. Diese Geschichte ist mir besonders in Erinnerung geblieben, weil ich hören durfte, wie sie weitergegangen ist.
Es ist Samstag und ich bin auf einem Geburtstag. Neben mir unterhält sich eine Frau, die ich nicht kenne, mit einer Kollegin von mir: „Die Mutter einer Freundin von mir war vor einigen Wochen hier im Krankenhaus. Wir hatten die Familie sehr ermutigt zu kommen, aber erst wollten sie gar nicht. Das kostet nur wieder viel Geld und sie haben langsam alles, was sie haben, ausgegeben für viele teure Untersuchungen im französischen Krankenhaus. Schließlich sind sie aber doch gekommen. Eine Ärztin hier hat ihnen wohl gesagt, dass die Mutter sterben würde.”, ich schlucke - das war dann wohl ich, „Sie ist dann auch nur eine Woche später gestorben. Auch wenn das hart für die Familie war, erzählt meine Freundin jetzt jedem, dass einem hier im Krankenhaus die Wahrheit gesagt wird. Die ganze Familie ist so dankbar!”
Manchmal ist es schwer für mich, so viel Leid und Dunkelheit zu sehen und so hilflos zu sein, weil ich dem doch scheinbar nichts entgegensetzen kann. Und manchmal braucht es mehr Mut, sich das einzugestehen, als einfach irgendwas zu machen. Ich bin sehr dankbar, dass ich in diesem Fall hören durfte, dass dieses Eingeständnis Gutes bei der Familie bewirkt hat.
Wie geht es bei mir persönlich weiter? Ich habe für Mitte Juli einen Rückflug nach Deutschland gebucht. Ich will auf lange Sicht meine Facharztweiterbildung beenden. Ich denke, ich werde so lange in Deutschland bleiben, wie das eben braucht, mit dem Ziel, danach wieder auszureisen. Ob mir meine Arbeit hier im Tschad anerkannt wird, weiß ich noch nicht. Damit hat für mich aber auch innerlich eine Zeit des Abschieds angefangen. Ich werde im Juli aus meiner Wohnung ausziehen und im Krankenhaus aufhören. Auch wenn ich von Herzen glaube, dass das im Augenblick die richtige Entscheidung ist und ich mich auch wirklich auf die nächsten Schritte freue, ist es gleichzeitig nicht leicht, zurückzulassen, was mir in den letzten Jahren doch so vertraut und lieb geworden ist. Danke für all eure Unterstützung in den letzten Jahren, aber auch gerade jetzt in dieser Zeit des Umbruchs.